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Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie
Revue Mensuelle de Psychiatrie et de Neurologie Monthly Review of Psychiatry and Neurology
Basel (Schweiz) S. KARGER New York
Separatum Vol. 129, Nr. l-^§)f(1955) Printed in Switzerland
Festschrift zum 60. Geburtstag von E. Grünthal Heimann, H. und P. N. Witt: Mschr. Psychiat. Neurol. 129, 104-128, 1955
Aus der Psychiatrischen Universitätsklinik Waldau (Direktor: Prof. M. Müller), dem Elektroencephalographischen Laboratorium (Leiter: Prof. M. Remy) und aus dem Pharmakologischen Institut der Universität Bern (Direktor: Prof. W. Wilbrandt)
Die Wirkung einer einmaligen Largaetilgabe bei Gesundén
(Vergleichend psychopathologisch-elektroencephalographische Untersuchungen)
Von H. HEIMANN und P. N. WITT
Anhang: Largactil im Spinnehtest von P. N. WITT
Seit der Einführung des Largactils (Megaphens) in die Behandlungsmethoden der psychiatrischen Klinik durch Delay und Deniker beansprucht dieses Präparat, das von den bisher bekannten Phe-nothiazinderivaten am stärksten das Zentralnervensystem beeinflußt, nicht nur wegen seiner therapeutischen Wirksamkeit sondern auch wegen seiner eigenartigen zentralnervösen Wirkung das Interesse der Kliniker. Während sich aber aus der großen Zahl der bereits vorliegenden Veröffentlichungen über seine Anwendungsmöglichkeiten und therapeutischen Erfolge bei endogenen Psychosen ein erstes vorläufiges Bild gewinnen läßt (vgl. Staehelin und Mitarbeiter), und andererseits das Erscheinungsbild des unter langdauemder, hochdosierter Largactilwirkung stehenden Kranken mit seiner an den Par-kinsonisten erinnernden gebeugten Haltung, bewegungsarmer Mimik und angedeuteten parkinsonistischen Symptomen der Muskulatur wohl bekannt ist («Parkinsonoid» nach Staehelin), liegen unseres Wissens keine eingehenderen Untersuchungen über die Largactilwirkung in einmaliger Dosierung beim Gesunden vor. In einer demnächst erscheinenden Dissertation aus dem Burghölzli berichtet Ernst über Versuche mit protrahierter Largactilbehandluüg an 2 Gesunden, auf die wir im Zusammenhang mit unsern Ergebnissen zurückkommen werden.
Um die Wirkung der einmaligen Dosis Largactil methodisch möglichst von verschiedenen Seiten zu erfassen, haben wir dasselbe
Heimann und Witt
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Vorgehen gewählt, das sich bei einer früheren Untersuchung über die Scopolaminwirkung bewährt hat (Heimann). Der Versuchsleiter (VI) beobachtete die im EEG-Laboratorium auf einem Untersuchungsstuhl halbliegenden Versuchspersonen (Vp), veranlaßte sie, alle wahrgenommenen Veränderungen zu schildern, und ließ sie in regelmäßigen Abständen eine Reihe leistungspsychologischer Testaufgaben lösen. Dazwischen wurden periodisch EEG-Aufnahmen gemacht. Am folgenden Tag hatten alle Vp eine ausführliche Selbstschilderung zu verfassen.
Die leistungspsychologischen Tests mußten kurz, möglichst differenziert und der vermuteten Wirkungsweise des Medikamentes angepaßt sein, damit sie nach einem Vor versuch während der Versuchsdauer (die in der Regel ca. 3 Stunden betrug), genügend oft wiederholt werden konnten, um Wirkungseintritt und Verlauf festzuhalten. Da nach den Erfahrungen bei den mit Largactil behandelten Kranken keine erhebliche Bewußtseinstrübung zu erwarten war, haben wir das bei der Scopolaminuntersuchung angewandte Vorgehen etwas modifiziert, indem wir auch einfache motorische Leistungen untersuchten. Geprüft wurde: 1. Nachsprechen von 5-8 einstelligen Zahlen. 2. Aufzählen von Wörtern mit einem bestimmten Anfangsbuchstaben während einer Minute. 3. Abschreiben. 4, Zeichnen geometrischer Figuren nach Vorlage. ;5. Messen der Zeit, die zum Lösen und Binden der Krawatte benötigt wird. 6. «Tapping» (vgl. Meili S. 315): Die Vp müssen während 3 Sek. möglichst viele Punkte mit einem Bleistift auf ein Blatt Papier machen. 7. «Durchstreichtest ohne Modell» nach Meili S. 310. Es handelt sich dabei um einen Test, bei welchem Zeichen ausgestrichen werden müssen, deren Einprägen sozusagen momentan erfolgt, wobei der Übungszuwachs bei ||Ér Durchführung des einzelnen Tests bedeutungslos ist. Der Test besteht aus 16 Zeilen von nach rechts oder nach links konkaven Bogen, welchen oben oder unten oder beiderorts ein Kreuz beigefügt ist.* Durchzustreichen sind nur die nach rechts offenen Bogen, wenn sie oben
oder unten ein Kreuz haben: ( (. Eine erste Zeile dient dazu, die Vp mit dem Test
vertraut zu machen. Dann wird die Zeit für jede folgende Zeile abgestoppt. Nach der 13. Zeile wird eine Pause von einer Minute eingeschaltet, in welcher die Vp aufgefordert wird, ihre eigenen Eindrücke über die vollbrachte Leistung mitzuteilen; hierauf werden die 3 letzten Zeilen gestoppt und abschließend die Zahl der Fehler bestimmt. Der Test hat den Vorteil, daß er eine differenzierte Auswertung erlaubt, welche die Schwankungen des Antriebs zu maximaler Aufmerksamkeitsspannung experimentell erfassen läßt.
Es wurden insgesamt 12 Versuche durchgeführt, wovon 3 Selbstversuche. Von den übrigen Vp waren 9 junge Ärzte zwischen 25 und 35 Jahren. Die Kontrollversuche des Durchstreichtestes erfolgten an Ärzten und Hilfspersonen1. Das Largactil wurde intramuskulär appli-
1 Den Herren und Damen der Psychiatrischen Universitätsklinik und des Pharmakologischen Instituts, die sich zu den Versuchen freiwillig zur Verfügung stellten, sei hier bestens gedankt. Die Verfasser.
Micbr. Psyohiat. Neurol., Yol. 129, No. 1/2/3, 1955 8
106 Heimann und Witt, Die Wirkung einer einmaligen Largactilgabe
ziert und zwar in Dosen von 25 mg (lmal), 37,5 mg (9mal) und 50 mg (2mal). Da die Vp ihr übliches Tagesprogramm einhalten sollten, erwies sich die Dosierung von 37,5 mg pro Person i.m. am geeignetsten; 25 mg i.m. waren zu schwach, 50 mg zu stark. Das Körpergewicht der Yp schwankte zwischen 68 und 90 kg.
In einer ersten Phase der Wirkung standen vegetative Symptome im Vordergrund. Zuerst trat eine mehr oder weniger deutlich feststellbare Kongestion des Kopfes und besonders der Nasenschleimhaut auf. Es kam zu einer Rötung des Gesichts, die Yp atmeten wegen Behinderung der Nasenatmung durch den Mund, die Sprache wurde näselnd. Dazu gesellte sich ein deutliches Trockenheitsgefühl im Mund bzw. in der Nase und in einem Fall auch in den Augen (Abnahme der Tränensekretion). In drei Fällen traten dazu Akkommodations- bzw. Koordinationsstörungen der Augen. Diese vegetativen Symptome dauerten durchschnittlich von der 12. Minute (5. bis 20. Minute) bis zur 77. Minute (minimal 45., maximal 125. Minute) und klangen allmählich ab. Mit geringer zeitlicher Verschiebung trat die psychische Wirkung («schläfrig», «leicht betrunken», «wurstig», «gleichgültig», «apathisch», «größere Anstrengung beim Durchstreichtest» usw.) durchschnittlich in der 27. Minute (minimal 13., maximal 30. Minute) auf und dauerte in der noch näher zu charakterisierenden Weise (vom Nachtschlaf unterbrochen) allmählich abklingend bis zum nächsten Tag; auch dann wurde sie mit wenigen Ausnahmen noch deutlich registriert und verschwand erst nach durchschnittlich 23,5 Stunden p. Inj. (minimal 19,5, maximal 28,5 Stunden) meist ziemlich plötzlich. In der zweiten Phase war demnach die psychische Wirkung vorherrschend, die vegetativen Begleiterscheinungen verschwanden fast völlig.
Die Yp bewegten sich während der ganzen Beobachtungszeit in der Regel wenig und lagen meist schläfrig und apathisch da. Überließ man sie sich selbst, lagen sie reglos mit geschlossenen Augen. Es kam in einzelnen Fällen zu leichtem Schlaf, aus dem die Vp jedoch leicht zu erwecken waren. (Vgl. dazu den Abschnitt über die EEG-Befunde, S. 117.) In 8 von 12 Versuchen trat ein subjektiv höchst unangenehmes Zucken und motorische Unruhe in den Beinen auf, die verschieden stark ausgeprägt waren. Die Vp äußerten, sie hielten es auf dem Stuhl nicht aus und möchten herumgehen und wechselten nun häufig die Lage. In einem Fall trat auch ein Zucken der Gesichtsmuskulatur auf. Diese motorische Unruhe war nur in den ersten Stunden des Versuchs zu beobachten, deckte sich also mit der ersten durch vegetative Sym-
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ptome gekennzeichneten Phase der Wirkung. Ernst hat dieses Unrastgefühl sowohl im Selbstversuch als auch bei 11 von den 40 auf das Erlebnis der Largactilkur untersuchten Kranken festgestellt. Bei der einmaligen Largactildosis ist es relativ früh zu beobachten, während es bei dem Selbstversuch von Ernst, der sich in 3stündlichen Injektionen eine Tagesdosis von 200 mg injizierte (und zwar so lange, bis das schlafreiche Anfangsstadium der Kur überwunden war), erst im zweiten Teil des? Versuchs auftrat. Das mit der Apathie und Bewegungsarmut stark kontrastierende Phänomen, das ein Patient von Ernst als «aufgeregtes Gefühl in den Beinen» bezeichnete, schilderte eine unserer Vp: « Oben lahm wie ein Freiberger Ackergaul, unten wie ein Ungarhengst!». Dranghafte Zustände, ein Bedürfnis zu zielloser Tätigkeit bei gleichzeitiger Apathie treten auch im Scopolamin-rausch auf, verbunden mit starker Dysphorie (vgl. Heimann). Wegen dieser Parallele halten auch wir in Übereinstimmung mit Ernst dafür, daß Iglsich in erster Linie um ein zentralbedingtes Antriebsphänomen handelt.
Während der ganzen Dauer des Versuchs war bei keiner Vp eine Bewußtseinstrübung zu beobachten. Es bestand, abgesehen von der Schläfrigkeit, nur eine ganz leichte Benommenheit, deutlicher in der ersten Phase des Versuchs bei vorherrschenden vegetativen Symptomen. Sie war sowohl an dem Ausdruck des Gesichts zu erkennen, wie auch aus den Äußerungen der Vp zu erschließen.
Es wurde angegeben: (Versuch 8: 11 Minuten p. Inj.): «Ich fühle mich ähnlich wie bei leichter Angetrunkenheit, wie wenn man von der Umgebung entfernter wäre, wurstiger; es ist recht angenehm, ein wenig Euphorie ist dabei». — (Versuch 9:^2*3 Minuten p. Injekt.): «Die Dinge sehen anders aus, vielleicht auch nicht, es besteht nur eine leichte Benommenheit wie nach Alkohol». – (Versuch 7: 16 Minuten p. Inj.): «Trockener Mund»… «geringgradiges Schweregefühl im Kopf»… «in der Nase ist es mir, wie wenn ein Schnupfen beginnen würde». -(23 Minuten p. Inj.): «Ich habe schwere Augenlider, bin stumpf und gleichgültig». (46 Minuten p. Inj.): «Es ist mir unangenehm zu Mute. Die Nase ist verstopft, wie wenn eine Grippe im Anzug ist». – (3. Selhstversuch: 8 Minuten p. Inj.): «Ich verspüre einen leichten Druck im Kopf, der Kopf ist etwas wacklig, oben schwer, unten weniger». (13 Minuten p. Inj.): «Der Druck im Kopf ist deutlich stärker, nicht unangenehm, wechselt manchmal, hald Schläfrigkeit, bald dumpf». – (34 Minuten p. Inj.): «Es ist eine unangenehme, bleierne Müdigkeit. .. habe Lust zu schlafen… von allem genug».
Wenn man die Vp anspracb, gaben sie prompt Antwort, sprachen nie an Fragen vorbei und mußten sich nicht zuerst mühsam zurechtfinden. Ein Gespräch war immer möglich, wenn ihnen auch die Lust dazu fehlte und es deshalb nur mühsam in Gang kam. Dem ent-
108 Heimann und Witt, Die Wirkung einer einmaligen Largactilgabi
sprach, daß die Orientierung stets intakt war. Auch eine Merkstörung Heß sich nicht nachweisen. Selbst auf der Höhe der Wirkung konnten die Yp mühelos 6 einstelHge, in Sekundenintervall vorgesprochene Zahlen nachsprechen. Nach dem Versuch und auch am folgenden Tag waren in keinem Fall amnestische Lücken nachzuweisen. Deshalb waren die Selbstschilderungen derVp in bezug auf zeitliche GHederung und Einzelheiten des Versuchsablaufs stets genau. Auch die Auffassung war nicht nennenswert beeinträchtigt. Eine gewisse Verlangsamung und Erschwerung – (z.B. einer kompHzierteren Erklärung über ein medizinisches Problem zu folgen) — wurde von einzelnen Vp geäußert; dies war wohl eher der allgemeinen Apathie und Unlust zu konzentrativer Aufmerksamkeitsanspannung zuzuschreiben (vgl. unten) und entsprach nicht einer echten Auffassungsstörung. Immer wieder wurde von den Vp betont, daß jede geforderte Leistung gelinge, doch müßten sie sich dazu mehr anstrengen als normal, sich einen stärkeren innern Ruck geben.
Die Zahl der in einer Minute aufgezählten Worte mit bestimmten Anfangsbuchstaben nahm bei 7 Versuchen mit 37,5 mg mit geringen Schwankungen vom 1. bis zum 5. Mal leicht zu = 14,14bisxs = 19,43); bei den beiden Versuchen mit
50 mg sank diese Zahl nach der 1. Stunde auf ein Minimum (z.B. von 13 auf 5), um am Schluß der Beobachtungszeit immer noch unter dem Anfangswert zu liegen (10). Es scheint, daß nur eine starke Largactilwirkung die Zahl der in einer bestimmten Zeit nach willkürlicher (nicht assoziativer) Auswahl zur Verfügung stehenden Worte beeinträchtigt. Die Zahl unserer Versuche ist zu klein, um dies mit Sicherheit auszusagen.
Aus den auf Seite 107 angeführten Äußerungen der Vp zur Frage der Benommenheit geht ferner hervor, daß die vegetativen Begleitsymptome von den einzelnen Vp in bezug auf ihren Stimmungsgehalt ganz verschieden erlebt wurden. Bei 6 Vp stand eine Dysphorie mehr oder weniger starken Grades von Anfang der Wirkung an im Vordergrund. Bei ihnen wurde in der Regel auch die Art der Müdigkeit von der normalen subjektiv deutlich abgegrenzt. Nach dem meist plötz-Hchen Verschwinden der psychischen Wirkung am folgenden Tag trat hier ein mehr oder weniger deutlicher Stimmungsumschwung auf; das Abklingen der Wirkung wurde z.B. als «Erlösung» gewertet, und es trat ein besonders intensives Gefühl der Leistungsfähigkeit auf. Es entspricht dies dem Stimmungsumschwung, den Ey bei plötzH-chem Absetzen des Medikamentes bei den einer Largactilkur unterzogenen Kranken feststellte und auch den Beobachtungen von Ernst. Bei 3 Vp fand sich mit Wirkungseintritt eine euphorische Stimmung, die während der ganzen Beobachtungszeit anhielt. Hier wurde
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zwischen Largactilmüdigkeit und physiologischer Ermüdung (z.B. nach langem Lesen abends) nicht unterschieden. Eine Yp hatte zuerst eine leicht euphorische Stimmung, die dann einer sehr starken Dys-phorie mit Krankheitsgefühl wich. Bei einer andern trat überhaupt keine Änderung der Stimmung auf. Die deutlichen vegetativen Symptome wurden hier einfach registriert.
Dieser Versuch (Nr. 9) war besonders interessant, weil der erheblichen vegetativen Wirkung des Largactils nur eine sehr schwache psychische gegenüberstand. Die Vp war vor dem Versuch in einer starken Erwartungsspannung. Ihre Leistungen besserten sich unter Largactil, und sie wirkte gelöster. Durch eine Lockerung psychischer Spannungen wurde hier das Leistungsniveau gehohen. Eine andere Vp, die leicht stottert, sprach während 2 Stunden unter Largactil unbehindert; danach trat das Stottern wieder auf.
Eine befriedigende Erklärung für die unterschiedliche Beeinflussung der Stimmung und für die verschiedene Verarbeitung der vegetativen Begleiterscheinungen vermögen wir nicht zu geben. Es ist möglich, daß eine Lockerung gewisser auch bei Gesunden vorhandenen inneren Spannungen am Anfang der Wirkung wohltuend empfunden wird, doch geht die Euphorisierung, wie sie namentlich bei 2 Yp zu beobachten war, über eine solche Entspannungswirkung hinaus. Die Zurückführung auf einfache Persönlichkeitszüge, etwa die Annahme, daß syntone Charaktere mehr mit Euphorie, schizothyme Naturen dagegen mit dysphorischer Verstimmung reagieren, gelingt nicht, denn unter den Vp, die mit starker Dysphorie reagiert haben, finden sich neben andern gerade syntone Persönlichkeiten. Dagegen gewannen wir den Eindruck, daß stark gefühlsmäßig ansprechende Vp stimmungsmäßig stärker ausschlugen, sowohl im Sinne der Euphorisierung wie der Dysphorie. Unter den Vp, die am wenigsten aus dem Gleichgewicht geworfen wurden, finden sich Schizothyme mit vorwiegend intellektueller Stellungnahme und starker Abspaltungsfähigkeit.
Eine solche Vp konnte sich während der Beobachtungszeit z.B. so gut beherrschen, daß man an ihrem Verhalten abgesehen von den vegetativen Erscheinungen kaum eine Wirkung feststellen konnte. Nachdem sie vom Versuchsleiter in der Stadt entlassen worden war, und der Grund für die sich auferlegte maximale Beherrschung damit wegfiel, trat prompt eine starke Müdigkeit mit Schwindelgefühl auf, ein Zustand, der von ihr im Selbstbericht mit einem beginnenden Bausch nach dem Exzitationsstadium verglichen wurde, und die Vp konnte sich im Bus kaum aufrecht halten. Aus den Mienen der Mitfahrenden schloß sie, daß man sie für betrunken hielt.
Eine Beziehung der quantitativen psychischen und vegetativen Lar-gactilwirkung zur Dosis pro kg Körpergewicht ist, wenn überhaupt vorhanden, aus unseren Versuchen nicht erkennbar. Bei der immer glei-
110 Heimann und Witt, Die Wirkung einer einmaligen Largactilgabe
chen Dosierung pro Yp (37,5 mg) wäre für leichtere Yp eine stärkere Wirkung als für die schwereren zu erwarten gewesen; hingegen beobachteten wir die stärkste Wirkung bei Yp 10 (84 kg) und die schwächste bei Vp 12 (68 kg). Überaus eindrücklich war, daß kräftige und robuste Naturen mit athletischem Einschlag z.B. viel stärker reagierten als leichte, zartgliedrige Leptosome. Die vegetativen Erscheinungen waren im allgemeinen gleichförmiger, offenbar in erster Linie abhängig von der Ausgangstage, z.B. stärker bei einer Yp, die an einem gewitterschwülen Tag vor dem Versuch bereits schlapp und müde war. Sie entsprachen quantitativ auch nicht den psychischen, die eine viel größere Schwankungsbreite aufwiesen. Außerdem war auffallend, daß die psychische Wirkung manchmal starke Schwankungen der Ausprägung im Verlauf des einzelnen Versuchs zeigte, so daß sie als wellenförmig an- und abschwellend geschildert wurde. Bestimmte Grundhaltungen der Persönlichkeit und ihre Einstellung zum Versuch haben demnach für die Intensität der psychischen Largactil-erscheinungen die gleiche Bedeutung wie die vegetative Ausgangslage für die vegetativen Symptome, wobei sich aber auch hier die innige Verflechtung vegetativen und emotionalen Geschehens bewahrheitet; denn stark gefühlsmäßig Ansprechende zeigten auch stärkere vegetative Ausschläge.
Wie bereits angedeutet, war eine Behinderung für einmal in Gang gekommene einfache Handlungen praktisch nicht nachzuweisen. Die Vp schrieben fehlerlos ab. Die Schriftzüge wurden zwar gelegentlich etwas fahriger, doch fanden sich keine Auslassungen, Verdoppelungen, Verschmierungen usw. wie bei Organikern, aber auch keine Tendenz zu Mikrographie oder Perseverationen. Beim Abzeichnen geometrischer Figuren nach Vorlage war keine wesentliche Unsicherheit der Strichführung oder Ungenauigkeit während des Versuchs zu beobachten. Die planimetrische Bestimmung der Größe der gezeichneten Figuren nahm im Verlauf des Versuchs weder regelmäßig zu noch ab (xi = 10,52 cm2 im ersten, xa = 9,42 cm2 im zweiten, X3 % 11,70 cm2im dritten, X4gr 12,09 cm2 im vierten und X5 =RlO,43 cm2 im fünften Test).
Auch eine Behinderung einfacher motorischer Leistungen war nicht zu verzeichnen: Die Zeit, die zum Lösen und Binden einer Krawatte gebraucht wurde, veränderte sich vom Anfang bis zum Schluß der Beobachtung nicht signifikant (Xl = 30,42 Sekunden bis x5 = 32,17 Sekunden). Nie war zu beobachten, daß eine gestaltmäßig eine Einheit bildende motorische Handlung während der Ausführung
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unterbrochen wurde, wie das z.B. bei der Scopolaminwirkung der Fall ist. Die Bewegungen waren nicht regelmäßig verlangsamt. Dagegen wurde die Sprache undeutlicher und gelegentlich verlangsamt. Die Sprachbehinderung wurde auch subjektiv deutlich wahrgenom-men. Die Verlangsamung war wohl nur zum Teil eine motorische, denn einzelne Vp hatten namentlich in den ersten Stunden auch das Gefühl der erschwerten Wortfindung. Beim «Tapping»-Test, der jeweils zweimal hintereinander durchgeführt wurde, war keine statistisch gesicherte Zu- oder Abnahme der Anzahl Punkte, die innert 3 Sekunden gemacht wurden, festzustellen.
Auf sensorischem Gebiet fanden sich keine abnormen Erscheinungen. Einzig eine Vp gab beim Wassertrinken nach 46 Minuten p. Inj. an, das Wasser «schmecke» nicht wie gewöhnliches Wasser, es habe einen Mandelgeruch. Eine zweite Vp sagte nach 1 Std. 35 Minuten p. Inj., sie sehe wie durch eine leichte Mattscheibe hindurch, die Farben seien so blaß.
Eine Vp berichtet, daß sie unter Largactilwirkung und in der folgenden Nacht merkwürdige Träume hatte, in welchen technische Apparate die Hauptrolle spielten; sie entbehrten einer persönlichen Stellungnahme. Die Vp träumte z.B. eine Kriminalgeschichte, bei welcher sie aus ihr unbekannten Gründen dabei war. Komplizierte technische Dingen waren vorherrschend: ein Auto war irgendwie in Bewegung, das Maschinelle war deutlich und grell in Aktion, dazu allerlei Apparate, die dem Beweisverfahren dienten, Laboreinrichtungen etc.; aber von einem Delikt, einem Täter, einem Motiv und gar einer eigenen Rolle beim Ganzen war nicht die Spur vorhanden. (Ähnliches hat auch Ernst beobachtet.) Eine andere Vp hing dagegen während der Beobachtungszeit Tâgträumereien nach, in welchen sie, im Gegensatz zu ihrer passiven Rolle in der Wirklichkeit, aktiv beteiligt war.
Die zentrale Störung, die bei der einmaligen Largactildosis zu beobachten war, lag eindeutig auf dem Gebiet des Antriebsgeschehens. Bei unserer Dosierung waren natürlich auch hier nicht so starke Symptome zu erwarten wie bei der fortlaufenden Behandlung mit Largactil nach dem Anfangsstadium. Es zeigte sich ferner bei unsern Versuchen, daß Müdigkeit und Schläfrigkeit durch die Vp am Anfang der Wirkung und während den ersten Stunden nicht in jedem Fall erlebnismäßig von dem Antriebsverlust, der Unlust zu Entscheidungen, zu Handlungen und zur Teilnahme an dem was vorging, getrennt wurden. Immerhin berichteten sie übereinstimmend von einem Gefühl der Gleichgültigkeit, das bei denjenigen mit euphorischer Stimmung eine wurstige Färbung bekam, ferner von Apathie usw.:
(Selbstversuch Nr. 3. Aus dem Selbstbericht): «Im Vordergrund stand die Unlust, etwas zu tun, die Abneigung gegen jede Änderung der Körperlage, gegen jede Be-
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wegung und das Bedürfnis,möglichst still zu liegen,weil jede Anstrengung die Dys-phorie verstärkte». «Noch am folgenden Tag erforderte es auf der Krankenstation einen großen Entschluß, jemanden anzusprechen; wenn man auf mich zukam, um mich etwas zu fragen, war ich verärgert und suchte mich möglichst bald zu entfernen, weil das Sprechen eine ganz erhebliche Anstrengung kostet, nicht nur wegen des immer noch trockenen Mundes. Noch bestand eine Tendenz, vor sich hinzudösen und allem seinen Lauf zu lassen. Deshalb strengte das Zuhören bei der Vorlesung übermäßig an, und auch bei der Ärztekonferenz mußte ich mich jeweils immer wieder aufs neue mühsam zum Mitmachen entschließen. Dabei waren Auffassung, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, soweit subjektiv beurteilbar, nicht beeinträchtigt – ich war immer sofort im Bild über alles, was vorging -, sondern es war nur diese Hemmung vorhanden, sich zu entschließen, etwas in Angriff zu nehmen, sich mit einem Problem auseinander zu setzen. Letzteres war besonders deutlich beim Erledigen der Korrespondenz. Ich hatte drei Briefe vor mir, die ein Kollege diktiert hatte. Nach Unterschreiben des ersten unterschrieb ich auch den zweiten mechanisch, obschon ich mit dem Inhalt nicht einverstanden war und die Notwendigkeit deutlich einsah, ihn nochmals anders zu schreiben. Zwei Stunden später, als die Wirkung plötzlich nachgelassen hatte, war ich darüber entsetzt und mußte alle Hebel in Bewegung setzen, damit der Brief zurückkam.»
(iSelbstversuch Nr. 2): (1 Std. 20 Min.): «Es ist wie eine ,Zwangsmüdigkeit*». (1 Std. 30 Min.): «Vorhin kostete es eine große Überwindung zu sprechen. Die Worte konnte ich nicht herausbringen, sie sind immer wieder zurückgefallen». (Aus dem Selbstbericht): «Ca. 20 Minuten vor 18.00 Uhr fuhr ich mit dem Auto durch die Stadt im dichtesten Verkehr. Ich fühlte mich elend, war todmüde und wunderte mich, daß nichts passierte; aber das Fahren ging sehr gut. Anschließend aß ich Abendbrot in Gesellschaft, wobei mir jedes Herüberreichen einer Schüssel oder sonstige Handlung einen schweren Entschluß bedeutete. Die Ausführung war nicht anstrengend, wenn der Entschluß einmal gefaßt war. Am Abend arbeitete ich mit einem anderen an einem englischen Artikel. Ich hatte die Tendenz, in jeder Diskussion über eine bestimmte Stelle nachzugeben, weil es mir eigentlich gleich war, wie sie schlußendlich lauten würde. Der einzige Wunsch war, so schnell wie möglich die Arbeit zu beenden. Die Diskussion verlief dadurch besonders friedlich. Um 20.30 Uhr ging ich zu Bett und schlief gleich ein, wie tot 10 Stunden lang (außergewöhnlich lange!), bis ich am Morgen von selber erwachte. Ich war immer noch apathisch, vor dem Gesicht war es wie ein Schleier. Es fiel mir auf, daß automatisch ablaufende Alltagshandlungen, wie z.B. Rasieren, sobald der Entschluß gefaßt war sie anzufangen, mühelos abliefen. Dagegen fehlte jede Initiative etwas zu beginnen, was Entscheidungen erforderte».
(Versuch 6. Aus dem Selbstbericht): «Während ich in der ersten Stunde mit dem Versuchsleiter noch diskutierte, wurde ich in der Folge so wurstig-müd, daß ich auf eine Diskussion keinen Wert mehr legte und antriebslos dahinschlummerte». .. (Nach Abschluß der Beobachtung): «Gegen halb acht abends schlief ich endlich ein und erwachte um 7 Uhr morgens spontan. Ich fühlte mich abgeschlagen, eigentlich nicht benommen, aber in jeder Hinsicht verlangsamt. Meine Morgentoilette dauerte etwa dreimal so lange als sonst. Inzwischen bemerkte ich, daß ich nicht mehr rechtzeitig zur .Ärztekonferenz ankommen konnte; dieser Umstand ließ mich aber völlig kalt».
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(Versuch 8. Aus dem Selbstbericht): «Ca. 20 Minuten nach der Injektion trat ein langsam zunehmendes Gefühl von Gleichgültigkeit und Müdigkeit auf. Diese Empfindungen waren nicht unangenehm, solange keine Leistungen verlangt wurden. Mehr und mehr nahmen im Verlaufe von ca. 1 Stunde Müdigkeit und Wurstigkeit zu. Damit parallel steigerte sich ein Gefühl ausgesprochener Unlust gegen die Testversuche, die schließlich vor allem etwa nach 2 Stunden als ausgesprochen quälend empfunden wurden. Ich hatte Mühe, mich zu konzentrieren und mußte geradezu dagegen ankämpfen, daß ich nicht über den VI wütend wurde oder mich gehen Heß und einfach einschHef»… «Am folgenden Morgen war mir klar, daß ich nun aufstehen und nachher Visite machen sollte. Müde war ich nicht mehr besonders. Trotzdem konnte ich mich während etwa einer Stunde nicht zum Aufstehen entschHeßen, da die ganze Stimmung zu wurstig und gleichgültig war, um einen nur halbwegs nachhaltigen Entschluß zu fassen. SchfießHch stand ich dann doch auf, machte Morgenvisite, hatte dabei aber ausgesprochen Mühe, richtiges Interesse für die Mitteilungen aufzubringen, die, mir Pfleger und Patienten machten.»
(Versuch 10. Aus dem Selbstbericht): «Ich fühlte mich regelrecht körperHch und seeUsch krank. Auf einmal erschien mir meine ganze Situation hoffnungslos und schwierig. Vor allem war die Tatsache quälend, daß man überhaupt so elend und preisgegeben sein kann, so leer und überflüssig, weder von Wünschen noch anderem erfüllt»… (Nach Abschluß der Beobachtung): «Riesengroß wuchsen vor mir die Aufgaben des Lebens auf: Nachtessen, in das andere Gebäude gehen. Zurückkommen – und das alles zu Fuß. Damit erreichte der Zustand sein Maximum an unangenehmem Empfinden: Das Erleben eines ganz passiven Existierens bei klarer Kenntnis der sonstigen MögHchkeiten» — «Nach dem Essen betrachtete ich meinen Sohn (Säugling), machte mich aber sogleich fort, weil er unterhalten sein wollte und mir nicht die geringste Geste und keine Bewegung einfiel.»
Eine sichere Differenzierung von Müdigkeitsgefühl und Schlafbedürfnis einerseits, Antriebsverlust andererseits ergab sich somit meist erst gegen Abend und vor allem am folgenden Tag, nachdem die ersteren infolge des Nachtschlafs gewichen, der Antriebs Verlust jedoch immer noch vorhanden war.
Hervorzuheben ist, daß sich die Antriebsstörung bei unseren Versuchen vor allem in der Phase der Entschlußfassung, der Entscheidung, des In-Angriff-Nehmens einer Sache äußert. Der Antrieb, eine in Gang gekommene Handlung fortzusetzen und abzuschließen, ist vorhanden, solange nicht eine neue Entscheidung gefordert wird. Deshalb werden gestaltmäßig eine Einheit bildende, einfache motorische Handlungen auch mühelos erledigt. Es fehlt dagegen die Initiative, die spontane Zuwendung zu den Aufgaben, selbst zu solchen, deren Erledigung dringlich ist.
Die Ergebnisse des «Durchstreichtestes ohne Modell» (Meili) sind hier zu behandeln, weil sie die besondere Form der Antriebstörung experimentell erfassen lassen.
114 Heimann und Witt, Die Wirkung einer einmaligen Largactilgabe
Die Auswertung des vor der Injektion und dann im Abstand von ca. % Stunden 4mal durchgeführten Tests erfolgte nach folgenden Gesichtspunkten:
1. wurde die Summe der Zeiten der 16 einzelnen Zeilen (Gesamtzeit) bestimmt, und mit den entsprechenden Zeiten von 5 Normalpersonen, die den Test 5mal mit halbstündigem Intervall lösten, verglichen.
2. wurde die Gesamtzahl der Fehler bei den einzelnen Lösungen mit den Resultaten der Yp ohne Largactil verglichen.
3. Da die graphische Darstellung der einzelnen Zeiten für jede Zeile ergibt, daß bei den Vp ohne Largactil und bei den andern vor der Injektion die Werte der ersten 6 Zeilen ungefähr gleich bleiben, dann aber langsam ansteigen, wurden die Differenzen der Zeile 1 und 6 (ohne Largactil =|§?ull) mit den entsprechenden Werten unter Largactilwirkung verglichen.
4. Dm festzustellen, ob bei den Yp ohne Largactil die Verbesserung der Leistungen von der 1. bis zur 5. Lösung auf Übungszuwachs oder auf geringeres Erlahmen der Aufmerksamkeit zurückzuführen ist, wurde die für die zweite Zeile benötigte Zeit (weil hier bei maximaler Einübung noch kein Nachlassen der Aufmerksamkeitsspannung anzunehmen in den 5 Lösungen verglichen.
5. Um zu unterscheiden, ob bei den Vp unter Largactil, deren Gesamtleistung von der ersten bis zur fünften Lösung praktisch dieselbe blieb, eine stärkere Erschlaffung der Aufmerksamkeitsspannung eingetreten oder von vorneherein kein Übungszuwachs erfolgt war, wurde die Summe der Zeiten für die 1. und 2. Zeile (maximale Einübung ohne Erschlaffung) zwischen der 1. und der 5. Lösung verglichen.
6. Da sich in der 13. Zeile das Arbeitstempo normalerweise erheblich verlangsamt hat (Nachlassen der Aufmerksamkeitsspannung) in der 14. Zeile dagegen nach 1-minutiger Pause mit frischem Impuls wieder schneller gearbeitet wird, wurde die Größe der Zeitverminderung zwischen der 13. und 14. Zeile in beiden Gruppen (mit und ohne Largactil) zwischen der 1. und der 5. Lösung verglichen.
Dabei wurden nicht die absoluten Zahlen verwandt, sondern die Differenz aus vergleichbaren Daten derselben Vp, um eine zu große Streuung durch die individuelle Verschiedenheit, mit welcher die Lösung des Tests angegangen wird, zu vermeiden. Es ergibt sich nämlich, daß einzelne Vp sehr schnell arbeiten, jedoch mehr Fehler machen, andere dagegen langsamer und exakter. Alle ermittelten Zahlenwerte wurden mit Hilfe des T-Tests von Student statistisch überprüft; dieser Test erlaubt bei einer entsprechenden Fragestellung die Entscheidung, ob «zwei gefundene Durchschnitte voneinander wesentlich oder nur zufällig abweichen» (Arthur Linder).
ad 1. Die Gesamtzeit, die für den Test benötigt wird, nimmt im Verlauf der 5 Lösungen mit halbstündlichem Intervall bei Vp ohne Largactil ständig ab, wie auf Abb. 1 ersichtlich ist. Bei den mit Largactil behandelten 12 Vp blieb dagegen die Gesamtzeit von der 1. bis zur 5. Lösung unverändert (vgl. Abb. 1). Der Vergleich der Mittelwerte ergibt unter Largactil auf 340 Versuchssekunden nur 5,45 Sekunden durchschnittliche Schwankungen (im T-Test kein signifi-
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Abb. 1. Ergebnisse von 5 im Abstand von etwa 45 Minuten durchgeführten Durchstreichtests nach Meili mit und ohne Largactil-Behandlung. Abszisse: Nummer des Tests, Ordinate: Gesamtzeit, die für die Aufgabe benötigt wurde. Die einzelnen Punkte zeigen die errechneten Durchschnittswerte aus allen Versuchen. Beachte die Zeitabnahme von Test zu Test bei den unbehandelten im Vergleich zu den behandelten Personen. – Abb. 2. Durchschnittliche Fehlerzahl pro Aufgabe bei 5 hintereinander durchgeführten Durchstreichtests nach Meili. Abszisse: wie Abb. 1. Ordinate: Mittlere Fehlerzahl aus allen Versuchen. Beachte den gegensinnigen Verlauf der Kurven der behandelten und unbehandelten Personen.
kanter Unterschied). Ein Unterschied der Mittelwerte der ersten Lösung zwischen behandelten und unbehandelten Vp erklärt sich aus der Tatsache, daß bei den unbehandelten mehr Yp schnell arbeiteten, dafür aber mehr Fehler machten als bei den behandelten. Ein Vergleich der durchschnittlichen Zeitabnahme von der 1. bis zur 5. Lösung zwischen den behandelten und unbehandelten Vp gibt einen mit 0,001 statistisch gesicherten Unterschied.
ad 2. Die Gesamtfehlerzahl stieg bei 11 von 12 behandelten Vp im Verlaufe der Lösungen 1 bis 5 an (vgl. Abb. 2). Der leichte Abfall zwischen Lösung 1 und 2 ist nicht signifikant. Der Vergleich zwischen der ersten und letzten Lösung ergibt einen mit 0,004 statistisch gesicherten Unterschied. Vp Nr. 9, die im allgemeinen ein abweichendes Verhalten zeigte – abnorm tiefe Anfangswerte (Erwartungsspannung) – kommt für die weitere statistische Auswertung nicht in Frage (vgl. das auf S. 109 Gesagte). Bei den 5 unbehandelten Personen dagegen fiel die Zahl der Fehler von Lösung zu Lösung ab, um im 4. und 5. Test ungefähr gleiche Werte zu zeigen. Statistisch läßt sich ein Unterschied der mittleren Fehlerzahl in der ersten und letzten Lösung zwischen der behandelten und unbehandelten Gruppe mit
116 Heimann und Witt, Die Wirkung einer einmaligen Largactilgabe
einer Wahrscheinlichkeit von 0,0027 errechnen in dem Sinne, daß die Largactilbehandelten im letzten Test wesentlich mehr Fehler machten als die Unbehandelten.
ad 3. Bei unbehandelten Personen wird die erste und sechste Zeile in der gleichen Zeit bewältigt. Unter Largactilbehandlung tritt bei den 11 statistisch ausgewerteten Versuchen ein Zeitzuwachs von durchschnittlich 4,4 Sekunden zwischen der 1. und 5. Lösung auf, der statistisch mit 0,005 stark gesichert ist. Unter Largactil tritt also bereits in der 6. Zeile eine meßbare Verlangsamung auf.
ad 4. Die durchschnittliche Arbeitszeit für die 2. Zeile bei den Vp ohne Largactil betrug in der 1. Lösung 17,8 Sekunden, in der 5. Lösung 11,8 Sekunden. (Unterschied mit P = 0,001 stark gesichert.) Die Verminderung der Gesamtzeit bei den Vp ohne Largactil von der 1. bis zur 5. Lösung beruht somit auf einem Übungszuwachs, der sich in den ersten Zeilen (maximale Einübung bei noch nicht wirksamer Erschlaffung der Aufmerksamkeitsspannung) durch eine Leistungssteigerung pro Zeile manifestiert.
ad 5. Die Summe der für die 1. und 2. Zeile benötigten Zeiten verglichen zwischen der 1. und 5. Lösung nahm bei der Gruppe der Largactilbehandelten um durchschnittlich 8,45 Sekunden ab (gegen Null = keine Leistungssteigerung statistisch stark gesichert mit P unter 0,001). Es bestand demnach auch bei den mit Largactil behandelten Vp eine den unbehandelten analoge Leistungssteigerung zwischen der 1. und 5. Lösung, welche sich in der Verkürzung der benötigten Zeit für die ersten zwei Zeilen signifikant nachweisen läßt. Da sich die initiale Leistungssteigerung nicht durch eine den unbehandelten entsprechende Verkürzung der Gesamtzeit kund tut, ist das eine Folge früherer (vgl. das unter 3. Gesagte) und stärkerer Erschlaffung der Aufmerksamkeitsspannung und nicht eines fehlenden Übungszuwachses.
ad 6. Die Zeitverkürzung zwischen der 13. und 14. Zeile (Erholung durch dazwischengeschaltete Pause von 1 Minute) ist in beiden Gruppen in der 5. Lösimg nicht meßbar verändert gegenüber der
1. Lösung. Die Wirkung der Pause ist unter Largactilbehandlung dieselbe, m. a.W. die Erholung nach Erlahmen der Aufmerksamkeit erfolgt mit und ohne Largactil gleich rasch. (Wir sprechen von «Erschlaffung bzw. Erlahmen der Aufmerksamkeitsspannung», da es sich bei der kurzen Dauer des Testes nicht um eine eigentliche «Ermüdung» handelt, für welche die Pause von einer Minute zu einer völligen Restitution nicht ausreichen würde.)
bei Gesunden
117
Die Frage, weshalb es unter Largactilbehandlung zu einem früheren und stärkeren Erschlaffen der maximalen Aufmerksamkeitsspannung kommt, läßt sich beantworten, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die normalen Schwankungen der maximalen Aufmerksamkeit bei der Lösung des Tests dazu führt, daß die Vp sich immer wieder zusammenreißen muß, um den Tempoverlust, der spontan durch Nachlassen der Aufmerksamkeitsspannung eintritt, wieder aufzuholen. Das Durchhalten bei der Lösung einer Aufgabe, die eine dauernde maximale Aufmerksamkeit erfordert, unterscheidet sich von dem Zuendeführen einfacher motorischer Handlungen gerade dadurch, daß sich die Vp, um den Anforderungen zu genügen, innerlich immer wieder mit höchster Anspannung der Aufgabe zuwenden muß. Dies ist aber jedesmal ein Akt spontaner Zuwendung, was durch die Largactilwirkung, wie wir gesehen haben, erschwert wird. Daß die Leistungen unter Largactil nach der Pause in gleichem Maße wie bei den Kontrollversuchen besser werden, erklärt sich dadurch, daß die Vp jetzt durch das Kommando des VI erneut angespornt werden, und die spontane Zuwendung durch Pause und Neuanfang erleichtert wird. Die von allen Vp (mit Ausnahme von Vp 6) geäußerte Unlust gegen den Durchstreichtest und die deutlich gefühlte Erschwerung wurde von einzelnen denn auch genauer präzisiert, indem sie angaben, man müsse sich immer wieder einen innern Stoß geben, um dabei zu bleiben; die Tendenz aufzuhören sei groß, man müsse sich immer zusammennehmen, sonst bleibe man stehen. Die Zunahme der Fehler erklärt sich neben der Verminderung der Aufmerksamkeitsspannung auch aus der Tatsache, daß die Vp oft bemerkten, daß sie Fehler machten, sich jedoch nicht aufraffen konnten, diese zu korrigieren. Die Unlust zur Lösung des Tests war bei einzelnen so stark, daß sie sogar angaben, sie hätten Angst davor. Im Gegensatz dazu stand das Verhalten der unbehandelten Vp, die Interesse an der Lösung bekundeten und nicht nachließen, nach einem System zu suchen, das ihnen die Lösung erleichtern könnte. (Einige bemerkten sogar richtig, daß es pro Zeile 11 durchzustreichende Zeichen gibt.)
Die periodischen Aufnahmen des Elektroencephalogramms (mit einem Grass- Apparat: bipolare, parasagittale Längsableitung, bei welcher alle Elektroden jeder Schädelhälfte verbunden waren und unverbundene, bipolare, transverse Ableitung) ergab folgendes:
1. In 8 von 12 Versuchen war die dem klinischen Befund entsprechende Schläfrigkeit im EEG zu beobachten: Verschwinden der Alpha-Wellen, paradoxe Lichtreaktion (Auftreten von Alpha-Wellen
118 Heimann und Witt, Die Wirkung einer einmaligen Largactilgabe
bei Augenöffnen und Verschwinden bei Augenschluß), Auftreten von Theta-Wellen und von «Spindeln». Überließ man die Vp sich selbst^ trat leichter Schlaf auf mit sich verlangsamenden Theta-Wellen und «K-Komplex». Es wurden somit im EEG die normalen Vorstadien und das erste Stadium des physiologischen Schlafes beobachtet.
2. Entsprach die Stärke der Wirkung im EEG im wesentlichen dem am Verhalten und dem leistungspsychologisch festgestellten Wirkungsgrad. Unter den Vp mit sehr starker Wirkung fanden sich diejenigen mit besonders schön ausgebildetem Alpha-Rhythmus, doch sind die Zahlen zu klein, um sichere Schlüsse daraus zu ziehen.
3. Bei Vp, die vor der Injektion eine spannungsarme Kurve mit vielen Beta-Wellen aufwiesen, erfolgte unter Largactil regelmäßig eine Abnahme der Beta-Wellen, ein stärkeres Hervortreten des Alpha-Rhythmus und eine Amplitudenzunahme der Alpha-Wellen. Dies ist als eine Wirkung der innern Entspannung bei anfangs ungewöhnlich hoch gespannten Menschen zu deuten und entspricht durchaus dem psychischen Befund.
4. Die leichte Benommenheit, die durch Largactil hervorgerufen wird, äußert sich elektroencephalographisch nicht.
ir;.Im. EEG läßt sich nach Largactil somit nicht ein «spezifisches» Kurvenbild erkennen. Das Medikament schafft jedoch neben einer Entspannung einen Zustand, der sich von demjenigen starker Ermüdung und Schläfrigkeit elektroencephalographisch nicht unterscheiden läßt. Man geht wohl nicht fehl, wenn man mit Terzian daraus schließt, daß das Largactil im Gegensatz zu den wohl auch kortikal angreifenden Barbituraten elektiv auf den Hirnstamm wirkt und einen Zustand hervorruft, der den physiologischen Einschlafvorgängen näher ist. Dabei ist aber nicht zu verkennen, daß in einzelnen Fällen eine erlebnismäßige Differenzierung der «Largactil-Ermüdung» von der physiologischen sich aufdrängte, daß somit im Erleben Momente der Wirkung erfaßt werden, die dem EEG entgehen, weshalb Schlüsse, die auf eine Gleichsetzung der Schlafprovokation durch Largactil mit physiologischem Schlafmechanismus hinausgehen, voreilig wären.
Diskussion.
Vergegenwärtigen wir uns zunächst die beobachteten Erscheinungen und ihren zeitlichen Verlauf nach einmaliger Largactilgabe im Vergleich mit den entsprechenden Symptomen fortgesetzter Darreichung des Medikamentes: Bei einmaliger Gabe treten nach einer
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ersten Phase mit vorwiegend vegetativen Begleiterscheinungen (Kongestion des Gesichts, Schleimhautschwellung der Nase, Trockenheitsgefühl in Mund und Rachen) zunehmende Müdigkeit, Schläfrigkeit und Apathie auf, die in der zweiten Phase das Feld beherrschen, wobei die Schlafneigung gegenüber der Antriebsstörung mehr und mehr in den Hintergrund tritt, letztere dagegen verhältnismäßig lang — nach ausgiebigem Nachtschlaf – sogar bis zum folgenden Tag (durchschnittlich 23,5 Std. p. Injekt.) nachzuweisen ist. ln der Kur folgt nach einem schlafreichen Anfangsstadium ebenfalls eine zweite Phase mit der Antriebsstörung als Hauptsymptom. Wie bei plötzlichem Absetzen des Largactil in der Kur lassen sich auch bei einmaliger Dosierung in den Fällen von Dysphorie kurzdauernde euphorische Nachschwankungen feststellen, die das auffallend plötzliche Verschwinden der Wirkung begleiten. Die bis zur Pflichtvernachlässigung gehende Gleichgültigkeit bei sonst gewissenhaften Vp (vgl. Beispiele Seite 112 und 113), motorische Unrast in der ersten Phase und Träume, in welchen maschinelle Dinge vorherrschen (vgl. Ernst), vervollständigen das Bild, so daß der Schluß erlaubt ist, daß, abgesehen von den motorischen Erscheinungen, die unter der Bezeichnung «Parkinso-noid» bekannt sind und nur nach langdauernder Largactilapplikation auftreten, die chronische Verabreichung von Largactil in höheren Tagesdosen nur eine quantitative Steigerung und zeitliche Verschiebung derselben Erscheinungen herbeiführt, die schon bei der einmaligen Dosierung zu beobachten sind.
Die phänomenologische und leistungspsychologische Analyse der Antriebstörung ergibt für die Wirkung der Einzeldosis eine notwendige Unterscheidung zwischen dem Antrieb, eine begonnene Handlung zu Ende zu führen, der unter Largactilwirkung nicht gestört ist (Erledigen gestaltmäßig eine Einheit bildender einfacher motorischer Handlungen, gewohnter Alltagsverrichtungen usw.), und dem Antrieb, eine Aufgabe in Angriff zu nehmen, Entscheidungen zu treffen, sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen, den man als Initiative bezeichnen kann. Diese ist unter Largactil beeinträchtigt. Die Vp müssen gewissermaßen zuerst eine Wand durchstoßen, bis sie zu einem Entschluß oder zur Ausführung einer Handlung kommen. Einmal in Gang gekommen läuft sie dann ohne wesentliche Behinderung ab, wenn zur weitern Erledigung nicht neue Entscheidungen getroffen werden müssen, oder – wie z.B. beim Durchstreichtest nach Meili — immer wieder eine neue spontane Zuwendung zur Aufgabe (Aufrechterhalten einer maximalen Aufmerksamkeitsspannung) erforderlich ist. Betrachtet
120 Heimann und Witt, Die Wirkung einer einmaligen Largactilgabe
man das Antriebsproblem von energetischen Gesichtspunkten aus (vgl. Lewin), besteht zwischen der Initiative zu einer Leistung und dem Antrieb zum Durchhalten einer begonnenen Handlung nur ein quantitativer Unterschied in dem Sinne, daß es eines geringeren «Spannungsgefälles» bedarf, um eine bereits in Gang gekommene Handlung fortzusetzen, als die notwendigen psychischen Funktionskomplexe für eine solche Handlung bereitzustellen. Es ist deshalb anzunehmen, daß eine medikamentös bewirkte Antriebsstörung (die unter diesen Gesichtspunkten ganz allgemein als eine dem Aufbau psychischer «Spannungsgefälle» entgegenwirkende «Kraft» zu verstehen ist) zunächst nur die Initiative, bei stärkerer Ausprägung jedoch auch den Antrieb zum Durchhalten beeinträchtigt. Letzteres ist z.B. bei der Scopolaminwirkung zu beobachten, bei welcher es zur Unterbrechung selbst einfachster, gestaltmäßig eine Einheit bildender, motorischer Handlungen kommt (vgl. Heimann). Hier ist auch erscheinungsmäßig die Antriebsstörung viel deutlicher als in den vorliegendenr Versuchen (Bewegungsarmut, Verlangsamung usw.).
Die Störung der Initiative, das Bedürfnis, «alles gehen zu lassen wie es läuft», bietet einen Ansatzpunkt zur Erklärung der Largactil-wirkung bei motorisch erregten Geisteskranken, aber auch bei halluzinierenden Paranoiden, weil sie bei den letzteren zu einer fatalistischen Einstellung führt und die Abwehrmechanismen dämpft. Das lange Anhalten der Wirkung in unseren Versuchen erklärt auch die Beobachtung, daß oft nach Absetzen des Medikamentes erst nach einem gewissen Intervall der Rückfall erfolgt.
Vergleicht man die elektroencephalographischen Befunde mit denjenigen beim Scopolaminrausch, fehlen beim Largactil langdauernde Strecken verminderter Alpha-Aktivität. Es kommt wie bei der physiologischen Ermüdung alsbald zum Schlafeintritt und (bei der jeweils nur kurzen Beobachtungszeit) zu leichtem Schlaf. Es fehlen hier klinisch die innere Spannung, welche die Vp beim Scopolaminrausch in dem als «hypnagoges Syndrom» bezeichneten Zustand (zwischen Wachsein und Schlaf) gefangen hält, und ebenso die diesen Zustand begleitende Bewußtseinsveränderung (Heimann).
Beim Largactil finden sich im EEG neben den Phasen von Schläfrigkeit solche mit völlig normalem Alpha-Rhythmus (Intensitätsschwankung der Wirkung). Dies läßt sich auf Grund der Hypothese, daß die Alpha-Wellen eine «fundierende Funktion» für die Vorgänge der Intentionalität und der affektiven und spontanen Regsamkeit sind (Grünthal und Remy), dahin interpretieren, daß bei Largactil
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121
die Möglichkeit zu differenzierten Leistungen noch vorhanden ist, wenn sie einmal in Gang kommen, im Gegensatz zum Scopolamin-rausch, wo sich der Antriebsverlust auch auf das Durchhalten einer begonnenen gestaltmäßig einheitlichen Handlung erstreckt (im EEG erkennbar an der Unterdrückung der Alphaaktivität ohne Auftreten von langsamen Rhythmen).
Daß das Largactil vorwiegend am Hirnstamm angreift, darin sind sich alle Untersucher einig (vgl. Staehelin). Unsere Ergebnisse bestätigen dies nur, und gerade der Vergleich mit den Phantasticis und dem Scopolamin zeigt, daß bei letzteren neben einer Stammwirkung die Sinnesfelder der Großhirnrinde beteiligt sein dürften, weshalb hier eine viel komplexere Wirkung auf das gesamte Gehirn anzunehmen ist. Daß das vorwiegend am Hirnstamm angreifende Largactil in der von uns angewandten Dosierung außer einer unbedeutenden leichten Benommenheit keine Bewußtseinsveränderung bewirkt, spricht ebenfalls für einen eng umgrenzten Angriffspunkt. In diesem Zusammenhang ist auf die Untersuchungen Grünthals über die Rolle des archikortikalen Funktionssystems zwischen Ammonshorn und cingu-lärer Rinde des Frontalhirns hinzuweisen, welchem eine wesentliche Bedeutung als Aktivator der Großhirnrinde zukommt, wobei Zwischenhirnzentren (Corpus mamillare) eine wichtige Schaltstelle einnehmen; ihre Läsion bewirkt neben andern Symptomen einen Antriebsverlust. Die Largactilwirkung läßt an eine noch funktionell umschriebenere Beeinflussung einer solchen Schaltstelle im Hirnstamm denken, womit freilich nicht mehr als eine z. Z. unbeweisbare Vermutung geäußert ist.
Zusammenfassung.
Die einmalige Largactilgabe führt bei gesunden Vp in der Dosierung von 37,5 mg i.m. in einer ersten Phase zu leichter Benommenheit verbunden mit starken vegetativen Erscheinungen (Kongestion des Gesichts, Schleimhautschwellung der Nase, Trockenheitsgefühl in Mund und Rachen) und zu Müdigkeit und Schläfrigkeit. Die beiden Letztem beherrschen zusammen mit der Apathie, die in der Folge mehr und mehr in den Vordergrund tritt, das Bild in der zweiten Phase. Die Beeinträchtigung des Antriebs läßt sich leistungspsychologisch und phänomenologisch als Störung der Initiative bestimmen, die bei unserer Dosierung durchschnittlich 23,5 Std. p. Injekt. anhält. Die chronische Verabreichung von Largactil in höheren Tagesdosen führt, abgesehen von den als «Parkinsonoid» bekannten moto-
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122 Heimann und Witt, Die Wirkung einer einmaligen Largactilgabe
rischen Symptomen, nur eine quantitative Steigerung und zeitliche Verschiebung derselben Erscheinungen herbei, die schon nach einmaliger Gabe zu beobachten sind. Im EEG finden sich nach 37,5 mg Largactil i.m. die Vorstadien und das erste Stadium des normalen Schlafes. Die Erscheinungen der Largactilwirkung werden mit denjenigen des Scopolaminrausches verglichen und ihre Bedeutung für das Phänomen des Antriebs sowie für den mutmaßlichen Angriffspunkt und die therapeutische Wirksamkeit des Largactils besprochen.
Resume.
L’injection i. m. unique de Largactil â la dose de 37,5 mg conduit, chez un sujet sain, dans une première phase, â une légère confusion associée k de fortes manifestations végétatives (congestion de la face, gonflement de la muqueuse nasale, sensation de sécheresse dans la bouche et la gorge) ainsi qu’â un état de fatigue et de somnolence. Ces deux demiers signes dominent l’image dans la deuxième phase, en commun avec l’apathie qui occupe de plus en plus le premier plan. La gëne de T allant peut ëtre interprétée psychologiquement et phé-noménologiquement comme un trouble de l’initiative qui, avec notre dosage, se maintient pendant 23,5 heures en moyenne après l’inj ection. L’administration chronique de Largactil â haute dose journa-lière ne provoque, exception faite des symptomes moteurs dits « par-kinsonoides», qu’une augmentation quantitative, et un déealage chronologique des mëmes manifestations, que l’on observe après une seule injection déjâ. A l’EEG après 37,5 mg i. m. de Largactil, on constate les stades préhminaires et le premier stade du sommeil normal. Les symptomes de Faction du Largactil sont comparés â ceux de l’ivres8e provoquée par la scopolamine et leur signification pour le phénomène de Tinitiative, ainsi que pour le point d’application présumé et pour l’efficacité thérapeutique du Largactil est discutée.
Summary.
A single dose of largactil of 37.5 mg intramuscularly leads, in the healthy subject, in the first phase to slight drowsiness with marked vegetative changes (congestion of face, swelling of the mucosa of the nose, a feeling of dryness in the mouth and throat), and to tirednees and sleepiness. The two last, together with an apathy which in the sequel comes more and more into the foreground, dominate the second phase. The effect on motivation showed itself, both phenomenologically and in performance, as a disturbance
bei Gesunden
123
of initiative, which lasted with our dosage for an average period of 23.5 hours per injection. The continued administration of largactil in higher doses leads, apart from motor symptoms known as “Parkin-sinois”, only to a quantitative increase and prolongation in time^of the same phenomena as. those which are observed after the single dose. In the EEG, after the single intramuscular dose of 37.5 mg Largactil, are seen the premonitory and the first stages of the changes of normal sleep. The phenomena of the largactil effect are compared with those of hyoscine intoxication, and their significance for the phenomena of motivation as also for the presumable point of attack and therapeutic effectiveness of largactil is discussed.
LITERATUR
Delay, J. et P. Denicker: Congr. d. Neurol, et Alién., Luxembourg 1952. -Ernst, K.: Diss. Zürich 1954. – Ey, H. et al.: Pratique de l’hibeniothérapie. Masson, Paris 1954. – Grünthal, E. und M. Remy: Mschr. Psychiat. Neurol. 122, 320,1951. -Grünthal, E.: Confin. neurol. 2, 64, 1939. – Heimann, H.: Die Scopolaminwirkung. Bibl. Psychiat. Neurol. Fasc. 93. S. Karger, Basel/New York 1952. – Lewin, K.: Z. psychol. Forsch. |f|j 294, 1926. – Linder, A.: Statistische Methoden. Basel 1951. — Meili, R.: Lehrbuch der psychologischen Diagnostik. H. Huber, Bern 1951. -Staehelin, J., P. Kielholz et al.: Schweiz. Arch. Neurol. Psychiat. 73, 288, 1954. -Terzian, H.: Rass. Neurol. veget. 4-5, 211, 1952.
Adresse des Autors: PD Dr. H.
Heimann, Heil- und Pflegeanstalt
Waldau, Bern (Schweiz).
Die Wirkung einer einmaligen Gabe von Largactil auf den Netzbau der Spinne Zilla-x-notata.
Der Netzbau der Spinne ist eine erbliche Artreaktion. Das Schema, nach welchem gebaut wird, ist angeboren und starr, und Umwelteinflüsse, die während der Bauzeit einwirken, vermögen nur geringe Änderungen hervorzurufen (Witt [1952]). Uns interessiert hier besonders die Stärke des jede Nacht um eine bestimmte Zeit wirksam werdenden Netzbautriebes. Diese wurde bereits durch Versuche mit verschiedenen das Zentral-Nervensystem angreifenden Mitteln bei Spinnen demonstriert (Peters, Witt [1949], Peters, Witt, Wolff [1950], Wolff, Hempel [1951], Witt [1951]). Bier waren selbst stark in Motorik und Koordination eingreifende Mittel kaum imstande, den Trieb zu unterdrücken. Dies führte in extremen Fällen (z.B. hohe Dosen Coffein, Witt [1949]) dazu, daß ein funktionsuntüchtiges Netz entstand.
124
Witt, Die Wirkung einer einmaligen Gabe von Largactil
das nicht eine Fliege mehr fangen konnte, – aber das Bauen fand noch statt. Der Netzbautrieb ist so stark, daß er sich trotz medikamentös hervorgerufener Undurchführbarkeit durchsetzt.
Nachdem der vermutliche Angriffspunkt des Largactil am Menschen festgestellt war, schien es interessant, die Wirkung auch im Spinnentest zu prüfen. Im Sinne einer vergleichenden Pharmakologie können wir danach fragen, wieweit ähnliche Funktionen (Antrieb -Netzbautrieb) bei verschiedenen Lebewesen (Mensch – Spinne) eine ähnliche chemische Empfindlichkeit gegen das Largactil zeigen. Lassen sich die Wirkungen des Largactil an Mensch und Spinne vergleichen ?
Wir machten mit 4 verschiedenen Largactilkonzentrationen1, 51 Versuche an Spinnen. Da die Menge der Medikamentlösung, die die Spinne trinkt, recht konstant ist, wurde nur die Konzentration der Trinklösung variiert: von KT1 (8 Versuche) über 2,5fËL0~2 (11 Versuche), IO”2 (11 Versuche) bis zu KT3 (21 Versuche). Die Substanz wurde teilweise mittags 11 Uhr, teilweise abends 20 Uhr gegeben, also 19 bzw. 10 Stunden vor der Netzbauzeit. Da bei der lang anhaltenden Wirkung des Largactil kein Unterschied zwischen den beiden Applikationszeiten in bezug auf die Wirkung zu bestehen scheint, werden sie in den folgenden Auswertungen nicht gesondert berücksichtigt werden.
Die Methodik war dieselbe, wie sie bereits früher beschrieben worden ist (Peters, Witt, Wolff [1950], Wolff,, Hempel [1951]). Die Spinnen werden mehrere Tage lang bei ihrem normalen Netzbauverhalten beobachtet und gleichmäßig mit Drosophila gefüttert. Dann wird das Netz an einem Morgen mit Ammoniumchlorid beräuchert und photographiert. Am Mittag oder Abend des gleichen Tages erhält die Spinne per os das Medikament in Zuckerwasser gelöst; anschließend wird das Netz zerschnitten. Am Ende der folgenden Nacht entsteht das neue Netz, das am Morgen darauf beräuchert und photographiert wird.
Das Ausmessen der Netze, vergleichend zwischen Netzen desselben Tieres vor und nach Largactil-Behandlung, geschieht von den Negativen, die zu diesem Zwecke mit Hilfe eines Projektionsgerätes proportionsgerecht auf einer Mattscheibe in natürlicher Größe abgebildet werden. Da die Ermittlung aller bisher für das Netz bekannten Maßzahlen für ims eine zu lange und zeitraubende Arbeit bedeutet hätte, begnügten wir uns mit folgenden Feststellungen:
x) Der Firma SPECIA danke ich bestens für die Überlassung von Reihsubstanz.
auf den Netzbau der Spinne Zilla-x-notata
125
Abb. 1. Netzbauhäufigkeit am 1., 2. und 3. Tag nach verschiedenen Dosen von Lar* gactil. Beachte die Unterdrückung des Netzbaues am ersten und zweiten Tag nach Largactil IO“1 (schwarze Säulen) im Gegensatz zur weitgehenden Erholung am zweiten und dritten Tag nach 10~2 und 10p3. Einzelheiten siehe im Text.
1. Netzbauhäufigkeit nach Largactil (im Vergleich zu der Bauhäufigkeit unbehandelter Spinnen am gleichen Tag im gleichen Raum).
2. Veränderungen im Ausèehen der Netze bei Betrachtung. 3. Größe der Fangfläche, – (in der Annahme, daß ein verminderter Netzbautrieb sich vielleicht doch, entgegen bisherigen Annahmen, in einer kleineren Fangfläche Ausdrücken könnte). 4. Zahl der übergroßen Sektoren (womit solche Winkel zwischen zwei Radien gemeint sind, die größer als die Summe ihrer Nachbarwinkel sind, wo also ein Radialfaden fehlt).
Das Ergebnis der Prüfung der Netzbauhäufigkeit nach Largactil ist in Abb. 1 dargestellt. Wir können daraus deutlich erkennen, daß, nach Dosis abgestuft, der Netzbau für 1,2 oder 3 Tage ausfällt. Trotz kleiner Versuchszahlen konnten die extremen Werte für verschiedene Dosen am gleichen Tage (z.B. 101gegen IO“3 Largactil am 2.Tag) mit dem Chi-Quadrat-Test schwach gesichert werden. Nur ein Tier baute nach der höchsten Konzentration (IO-1) schon am nächsten Tag, wobei das Netz ein abnormes Aussehen zeigte (Abb. 2), eine Veränderung, die derjenigen nach hohen Dosen von Coffein am ähnlichsten sieht (Witt [1949]).
Die Ausmessung aller übrigen Größen und ihr Vergleich mit den Normalwerten verlief negativ, d.h. es konnten keine Veränderungen
126
Witt, Die Wirkung einer einmaligen Gabe von Largactil
a
b
c
Abb. 2. a) Spinne Nr. 59 baut am .16.3. ein «normales» Netz, b) Nach Largactil IO-1 macht sie einen Tag Pause, dann baut sie dieses kleinere, unregelmäßige Netz. Motorische Störungen? c) Am 22. 3.-6 Tage später – hat sich Spinne 59 weitgehend aber noch nicht vollständig erholt. Das Netz ist klein, aber
wieder regelmäßiger.
der Netzgröße, der augenfälligen Regelmäßigkeit oder der Zahl der übergroßen Sektoren unter Largactilwirkung festgestellt werden.
Dies Ergebnis scheint besonders interessant, wenn wir es mit der Wirkung von Veronal auf den Netzbau vergleichen (Peters, Witt, Wolff [1950]). Zwar haben wir hier vor 4 Jahren von einer Hemmung des Netzbautriebes durch Veronal gesprochen, dabei aber in den wenigen vermessenen Netzen immer eine vermehrte Zahl übergroßer Sektoren gefunden. Dies ist eine Beeinträchtigung der Netzvollständigkeit, während wir unter Largactil eine reine dosisabhängige Hemmung der Netzbaufähigkeit finden. Demnach besteht ein deutlicher Unterschied zwischen der Wirkung eines Schlafmittels wie Veronal und des Largactil auf den Netzbau der Spinne, wobei letzteres mehr an der Wurzel des Triebes anzugreifen scheint, nämlich am Ingangsetzen der Reaktionskette «Netzbau», nicht an ihrer Vollendung.
Der einmalig beobachteten Störung der Motorik beim Netzbau möchten wir als Largactilwirkung nicht zu große Bedeutung beimessen: einmal handelt es sich dabei offensichtlich um eine Ausnahme (einer von 51 Versuchen) und die Dosis war so hoch, daß man sie wohl als für die Spinne «toxisch» bezeichnen kann. Es scheint mitteilens-
auf den Netzbau der Spinne Zilla-x-notata
127
wert, bedarf aber weiterer Bestätigungen, daß solche toxischen Dosen Largactil motorische Störungen hervorrufen können.
Die merkwürdige Parallele zwischen der Wirkung des Largactil auf den Netzbautrieb der Spinne und den Antrieb des Menschen ermutigt uns zu einem Vergleich der bei beiden wirksamen Dosen: aus unseren Versuchen geht hervor, daß éin Mensch 40 OOOmal mehr Largactil braucht als eine Spinne (40 mg/1 y), während er nach früheren Versuchen nur lOOmal mehr Pervitin als die Spinne braucht, um eine deutliche Wirkung zu zeigen. Nehmen wir das Verhältnis des Körpergewichts Mensch/Spinne etwa als 1/1 000 000 (60 kg/60 mg) an, so ergibt sich eine Dosierung nach Körpergewicht, die für Largactil bei der Spinne nur 25mal höher ist als beim Menschen, während die Spinne im Verhältnis lOOOmal mehr Coffein als der Mensch braucht. Eine solche Ähnlichkeit in der Dosierung ist der Ausdruck ähnlicher Empfindlichkeit beider Lebewesen für Largactil, die hinwiederum von ähnlichen chemischen Rezeptoren abhängig sein wird. Leider sind uns die biochemischen Mechanismen im Zentral-Nervensystem zu wenig bekannt, als daß wir über die Art der Rezeptoren, an denen das Largactil angreift, irgendeine Vermutung aussprechen könnten. Ähnliche psychische Störungen scheinen aber hier bei verschiedenen Lebewesen eine ähnliche chemische Grundlage zu besitzen.
Zusammenfassung.
Der Spinnentest ergibt mit einer Ausnahme keine Veränderung der Netze; hingegen eine Unterbrechung des Netzbaus, deren Länge der Dosis etwa proportional ist. Eine Deutung wird versucht in dem Sinne, daß der Netzbautrieb, aber nicht die Ausführung des Netzes durch Largactil beeinflußt wird.
Resumes.
Le « Spinnentest» ne provoque, â une exception près, aucune modification du réseau, mais une interruption de la construction du réseau, dont la longueur est en quelque sorte proportionnelle â la dose employée. L’auteur tente d’interpréter ce fait en partant de l’idée que c’est la tendance â la construction du réseau et non l’exé-cution du réseau qui est influencée par le Largactil.
Summary.
The spider test gives, with one exception, no alteration of the web. There is, however, an interruption of the building of the web
128
whose duration is roughly proportional to thè-dose administered. This is interpreted to signify that the drive to build the web, but not the building itself, is influenced by largactil.
LITERATUR
Peters, H. M. und P. N. Witt: Experientia 5,161,1949. – Peters, H. M., P. N. Witt und D. Wolff: Z. vergl. Physiol. 32, 29, 1950;, – Witt, P. N.: Helv. physiol. Acta 7, C 65,1949; Experientia 7,310,1951; Behaviour 4,172,1952. – Wolff, D. und U. Hempel: Z. vergl. Physiol. 33, 497, 1951.
Adresse des Autors: Dr. P. N. Witt, Pharmakologisches Institut der Universität, Bern (Schweiz).