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Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie
Hevue Monstiolle de Psychiatrie et de Neurologie – Monthly Review of Psychiatry and Neurology Editor: J. KLAESI, Schloß Knonau Redactor: E. GRÜNTHAL, Bern
Basel (Schweiz) S. KARGER New York
Separatum Voi. 132, No. 4, 1956 Printed in Switzerland
Witt, P. N. und R. Weber: Mschr. Psychiat. Neurol. 132, 193-207, 1956
Aus dem Pharmakologischen Institut und dem Theodor-Kocher-Institut
der Universität Bern
Biologische Prüfung des Urins von drei Kranken mit akut psychotischen Zustands bildern auf pathogene Substanzen
mit dem Spinnentest1
Eine vorläufige Mitteilung Von PETER N. WITT und ROLF WEBER2
Einleitung
Zwei Gruppen von psychopathologischen Bildern, die sich beide dem Begriff des akuten exogenen Reaktionstypus Bonhoeffers unterordnen lassen, sind immer wieder durch die Ähnlichkeit ihres äußeren Verlaufes aufgefallen: einerseits nämlich akute Delirien, wie sie als symptomatische Psychosen z.B. bei Hunger, Erschöpfung, Kachexie, Fieber und mannigfachen zerebralen Schädigungen im engeren Sinne auftreten können, auf der anderen Seite Rauschzustände nach einmaliger Einnahme von Meskalin, d-Lysergsäure-diäthylamid, Haschisch, Adrenochrom oder anderen sogenannten halluzinogenen Substanzen. Das Maß unserer Einsicht in die Ursachen dieser psychopathologisch so ähnlichen Zustände ist dabei ungleicher Art : bei den eigentlichen Psychosen vom akuten exogenen Reaktionstypus beobachten wir meist im Verlaufe einer kurz oder
1 Die Arbeit wurde mit Unterstützung des Nationalfonds, Forschungskommission der Universität Bern, durchgeführt, für dessen Hilfe hier bestens gedankt sei.
2 Erste Versuche wurden mit Urin und Liquor cerebrospinalis Halluzinierender im Jahre 1952 zusammen mit E. Blickenstorfer (damals Burghölzli, Zürich) durchgeführt, dessen anregende Mitarbeit hier nachträglich verdankt sei; weitere Vorversuche wurden 1954 in Zusammenarbeit mit M. Bleuler, Zürich gemacht, dem wir die Auswahl der Patienten und viel Unterstützung verdanken.
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länger dauernden körperlichen Schädigung plötzliche, ohne erkennbare äußere Ursache auftretende Delirien, die wenige Stunden bis Tage andauern. Beim experimentellen Rausch dagegen besteht eine klare ursächliche Beziehung zwischen der Einverleibung der Substanz und dem Auftreten der Delirien, die regelmäßig abklingen, wenn das Gift den Körper verlassen hat. Der Schluß liegt nun nahe, daß sämtliche akuten Delirien durch gleiche oder ähnliche Stoffe hervorgerufen werden, wie wir sie von der Erzeugung experimenteller Räusche her kennen. Bei den ätiologisch noch unklaren Delirien ließe sich dann leicht an eine Selbstvergiftung des Körpers durch pathologische Stoffwechselsubstanzen denken, die zu einer schweren akuten Schädigung des Zentralnervensystems führen.
Auch akute halluzinatorische Episoden bei Schizophrenie können häufig von experimentellen Rauschzuständen erscheinungsbildlich kaum abgegrenzt werden, ein Umstand, der wiederholt zu Hypothesen einer toxischen Genese der Schizophrenie beigetragen hat (siehe hierzu R. W. Gerard [1]). Die Schwäche solcher — keineswegs neuen — Annahmen besteht darin, daß sich bisher im krankhaften Stoffwechsel keine den bekannten Rauschgiften ähnliche Toxine nach weisen ließen.
Vor einem Jahr führte Witt aus [2], daß der von Peters und Witt [3] eingeführte Spinnentest auf die bisher verdächtigen halluzino-genen Substanzen empfindlich reagiert, und daß sich diese Substanzen in ihrer Wirkung auf das Netzbauverhalten so verschieden verhalten, daß sie sich in bestimmten Mindestmengen deutlich durch Ausmessung der Netze nachweisen lassen. Man sollte also durch Yerfütterung von Körperflüssigkeiten Delirierender an Spinnen feststellen können, ob sich bestimmte Mindestmengen halluzino-gener Substanzen darin befinden.
Als zu untersuchende Körperflüssigkeit wählten wir den Urin. Dieser ist relativ leicht selbst von unruhigen Patienten zu gewinnen, eine große Anzahl von Substanzen wird mit ihm unverändert aus dem Körper ausgeschieden, und die Konzentration einiger Substanzen liegt im Urin sogar über derjenigen des Blutes. Allerdings gelingt nicht allen Substanzen die unveränderte Passage durch die Nieren, und mit der Wahl des Urines haben wir somit bewußt aus den Möglichkeiten, Körperflüssigkeiten zu prüfen, eine herausgegriffen, die die falsche sein kann.
Es entsteht nun weiter die Schwierigkeit, daß unter vielen im Urin gelösten Substanzen der fragliche Stoff, als biologisch aktiv,
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nur in relativ geringer Menge auftritt, und außerdem wäre alle Trockensubstanz aus dem halben Liter Morgenurin eines Patienten viel zu viel, um an wenige Spinnen mit einer Tagestrinkmenge von 4 mg Flüssigkeit verfüttert zu werden. So haben wir, wieder auf die Gefahr hin, den gesuchten Stoff zu verlieren, die Anreicherung bestimmter und Elimination anderer Stoffe vorgenommen. Das Für und Wider der bei der Urinaufarbeitung durch uns bevorzugten Anreicherung der Amine (= basische Substanzen) ist bei Weber [4] diskutiert. Er gibt als Grund die basische Natur bekannter Psychotika aus dem Pflanzenreich und die Auffassung an, daß viele der festgestellten, mehr allgemeinen Störungen des Stoffwechsels sich auf den Stickstoffhaushalt beziehen.
Liquor cerebrospinalis, als schwer zu gewinnende und vom Stoffaustausch mit dem übrigen Körper relativ abgeschlossene Flüssigkeit, Blut, als zu sehr mit hochmolekularen Proteinen beladen und nur schwer ohne Verlust an wertvollen Stoffen zu reinigen, haben wir im folgenden nicht untersucht.
Um eine der wichtigsten Fehlerquellen auszuschalten, nämlich die Beeinflussung des Netzbaues durch Substanzen, die schon im normalen Urin Vorkommen, ist die Untersuchung und Auswertung nur vergleichend zwischen auf gleiche Weise gewonnenen und verarbeiteten Urinen von 2 Gesunden und 3 Halluzinierenden geschehen. Durch im Laufe des Sommers eingestreute Versuche mit am Netzbau wirksamer Substanz wurde die Empfindlichkeit der biologischen Methode, durch Leerversuche die Gleichmäßigkeit der Ausgangswerte immer wieder kontrolliert.
Material und Methode
Der Morgenurin eines halluzinierenden und mindestens 24 Stunden lang medikamentfreien Patienten wurde mit Salzsäure angesäuert und uns per Expreß zugesandt, so daß er noch am gleichen Tage zur Verarbeitung kam. Wir erhielten jeweils etwa 500 ml. Der Urin kam aus dem Burghölzli, Zürich, der Waldau, Bern und aus der kantonalen Heil- und Pflegeanstalt Münsingen, für deren Mitarbeit hier bestens gedankt sei. Folgende Urine wurden getestet:
MIA. Symptomatische Psychose organischer Art vom Typus eines Dämmerzustandes mit Halluzinationen: Vor zwei Jahren erlitt der Kranke einen Schädelunfall. Seither hatte er wiederholt epileptiforme Zustände. Ein EEG und ein Luft-encephalogramm ergaben indessen einen negativen Befund. Der neurologische Status ist auch negativ. Einzig wurde ein pathologischer Liquor gefunden mit einem auf 66 mg % erhöhten Gesamteiweiß und pathologischen Kolloidreaktionen.
BIA. Pat. E.S. geb. 1907. Die Diagnose lautete: Alkoholhalluzinose bei chronischer Trunksucht : Die Trunksucht hatte bereits in der Pubertät begonnen.
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Nach der Scheidung allein gelebt, unstet geworden, fürchtete, getötet zu werden und machte weitere wahnhafte Angaben, weshalb Einweisung ins Burghölzli.
B2A. Pat. H. R. geb. 1905, Diagnose : akute Verschlimmerung einer wahrscheinlich schon chronisch gewordenen Hebephrenie, Verfolgungsideen, Größenideen. Be-ziehungs- und Beeinträchtigungsideen. Im Burghölzli viermal. Bei der letzten Entlassung deutlicher schizophrener Defekt.
NIA. Urin eines gesunden, leicht schwachsinnigen Patienten, der die gleiche Behandlung und Verpflegung wie die anderen bekommen hatte, aber körperlich völlig gesund war.
N2PA: Urin eines Gesunden, wurde nach Variante 2 weitgehender als die anderen Urine extrahiert.
Die Gewinnung der Extrakte war darauf ausgerichtet, die stärkeren organischen Basen auf möglichst schonende Weise anzureichern. Zu diesem Zweck wurde bei der Aufarbeitung jede Berührung der Stoffe mit alkalischem Milieu vermieden* Ein Arbeiten unter Sauerstoffausschluß war allerdings aus technischen Gründen nicht durchführbar.
Unter Verwertung früherer Erfahrungen ( Weber [5]) arbeiteten wir mit Ionenaustauschern nach folgendem prinzipiellen Arbeitsgang: Der Urin wurde zunächst durch Behandlung mit dem schwach basischen Anionenaustauscher II (Merck) von der als Konservierungsmittel zugesetzten Salzsäure befreit. Alsdann wurden die Basen an eine Säule des schwach saueren Kationenaustauschers (Carbo-xylharz XE 64) adsorbiert. Von der mit Wasser gewaschenen Säule wurden die Basen wieder mit HCl eluiert. Das Eluat gelangte nach Entfernung des Säureüberschusses mit Anionenaustauscher II zur Gefriertrocknung. Die so getrockneten Hydrochloride wurden (Variante I) mit wenig Alkohol extrahiert. Es wurden also, abgesehen von den unvermeidlichen Verlusten, alle Basen erfaßt, die bei pH 7 vom Carboxylharz adsorbiert werden und deren Hydrochloride in Alkohol löslich sind* In einer zweiten Variante haben wir zur Verminderung des «Ballastes» die Gruppe der erfaßten Amine durch Pikrinsäurefällung weiter eingeschränkt.
Um die tatsächlichen Verluste festzustellen, die Basen durch unser Aufarbeitungsverfahren erleiden, wurde ein Modellversuch angesetzt: in gewöhnlichem Tagesurin wurden 100 mg Mezkalinsulfat pro Liter aufgelöst. Die Aufarbeitung nach Variante 2 ergab ein Präparat, in welchem sich auf ionophoretischem Wege Mez-kalin entsprechend einer Ausbeute zwischen 50 und 70 % nachweisen ließ.
Einzelheiten der chemischen Aufarbeitung der Urine : In den filtrierten, mit HCl angesäuerten Urin (zirka 500 ml) wurde portionenweise frisch gewaschener Ionenaustauscher 2 Merck (J II) eingetragen, bis das pH 7 i 0,2 betrug. Verbrauch zirka 70 bis 100 g J II. Das Harz wurde abfiltriert und mit etwa 100 ml Wasser nachgewaschen. (Hierund später gelangte nur ionenfreies Wasser zur Verwendung.) Filtrat und Waschwasser wurden vereint durch eine mit feinem Carboxylharz Amberlite XE 64 (Rohm und Haas) beschickte Säule gelassen, was 5 bis 10 Stunden erforderte und deshalb bei 0° C erfolgte. Die Säule und die Harzmenge waren so bemessen, daß die Flüssigkeit bis zum Ende nicht weniger sauer als pH 4 austrat. (In der Regel zirka 70 ml Harz.) Nachwaschen der Säule, bis die Flüssigkeit farblos und neutral ablief. Die Elution der an die Säule gebundenen Kationen erfolgte mit n/5 HCl. Wenn die anfänglich neutral reagierende Lösung der Basenhydrochloride sauer auszutreten begann, was nach 100 bis 200 ml der Fall war, wurde mit Wasser nachgewaschen (ebenfalls 100 bis 200 ml), bis die Reaktion annähernd neutral war
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(pH zirka 6). Die vereinigten Eluate wurden nun in analoger Weise wie es mit dem sauren Urin geschah, mit Hilfe von J II neutral gestellt und im gefrorenen Zustand im Hochvakuum getrocknet. Die mit A bezeichneten ersten vier Urinpräparate (Variante I) wurden dargestellt durch Verreiben der Trockenrückstände mit 5 ml 96 % Alkohol, dann Filtration und erneutes Eintrocknen im Vakuum. Die so erhaltenen Substanzmengen waren, in Übereinstimmung mit früheren Erfahrungen, bei den pathologischen Urinen größer als bei den Normalurinen. NIA ergab 60 mg/1 Urin, MIA und BIA etwa 400 mg/1, B2A etwa 800 mg/1.
Für das als N2PA bezeichnete Präparat (Variante 2), wurde der Trockenrückstand der Säulenelution aus wässeriger Lösung mit wässeriger Pikrinsäure gefällt. Die Pikrate wurden durch Behandlung mit J II und wenig HCl wieder in die Hydrochloride übergeführt. Daraus wurden, ähnlich wie in Variante I, die alkohollöslichen Hydrochloride gewonnen (30 mg). Zur Applikation an den Tieren wurde die Substanzmenge, die bei Variante I zirka 150 ml, bei Variante II 500 ml Urin entsprach, in 0,2 ml Zuckerwasser aufgelöst.
Die biologische Testung auf halluzinogene Substanzen geschah durch Ver-fütterung der Extrakte an die Spinne Zilla-x-notata CI. 6 bzw. 11 Stunden vor dem Netzbau, wobei jede Spinne im Durchschnitt den 150. Teil des Gesamturins als Extrakt erhielt. Die Applikationszeiten wurden gewählt, weil frühere Versuche gezeigt hatten ( Witt [2]), daß kurzwirkende Substanzen im 6-Stundenversuch am besten in ihrer Wirkung auf den Netzbau erfaßt werden können, Substanzen mit langsam einsetzender Wirkung hingegen im 11-Stundenversuch. Dies hängt vermutlich mit den Verdauungs- und Resorptionsverhältnissen bei der Spinne zusammen {Witt [6]). Um Witterungseinflüsse, gegen die Spinnen sehr empfindlich sind, zu vermindern, wurde jeder Extrakt an mindestens zwei verschiedenen Tagen an verschiedenen Individuen zur gleichen Zeit getestet. Insgesamt umfaßte eine Gruppe gleichartiger Versuche mindestens 21 Applikationen (zwischen 21 und 29, siehe auch Tabelle 1), da nur so eine sicher genügende Anzahl Netze zur statistischen Auswertung gewonnen wurde. Zwar hatten wir früher gezeigt ( Witt [6]), daß oft schon z.B. 12 Versuche genügten, um statistisch stark gesichert charakteristische Veränderungen zu erfassen, aber für diese wichtigen Versuche bevorzugten wir eine erhöhte Sicher heit s s ch welle.
Die Netze der meist jede Nacht bauenden Spinnen wurden am Morgen mit Ammoniumchlorid «geräuchert» und vor einem dunklen Hintergrund proportionsgerecht photographiert. Einzelheiten der Technik siehe in einer früheren Arbeit (Witt [2]) und bei {Witt [6]). Die Ausmessung der Photographien erfolgte auf die gleiche Weise wie früher beschrieben, und die Auswertung geschah vergleichend zwischen Netzen eines Individuums am Tage vor und am Tage nach der Substanzapplikation. Zur Kontrolle wurde das Netz noch am dritten Tage photographiert und vermessen. In Abänderung des früheren Verfahrens wurde dann der Quotient aus den Maßzahlen der Netze beider Tage gebildet, dessen Größe bei unverändertem Netzbau 1 betragen sollte. Der Mittelwert aller so gewonnenen Quotienten konnte dann mit dem T-Test mit dem theoretischen Wert 1 verglichen werden.
Ergebnisse
Die Zahl der gebauten Netze nimmt für eine bestimmte Gruppe von Spinnen von Tag zu Tag ab, da Tiere sich häuten oder aus
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anderen Gründen unterbrechen. Der Netzbau kann durch Largactil, der Dosis etwa proportional, für einen bis mehrere Tage völlig unterdrückt werden (Heimann und Witt [7]). Nach einer ganzen Reihe anderer Substanzen ( Witt [6]) wird er vermindert. Aus Tabelle 1 ergibt sich eine regelmäßige Abnahme des Netzbaues am ersten Tage nach Applikation der Urinextrakte, nirgendwo eine vollständige Unterdrückung. Eine stärkere Abnahme fällt nach allen drei Extrakten 1 aus dem Urin Delirierender auf, nachdem diese 11 Stunden vor der Netzbauzeit appliziert worden waren (42%, 44%, 42%). Deshalb wurde ein #2-Test durchgeführt, wobei die Netzbauhäufigkeit (Zahl der gebauten und nicht gebauten Netze aller zum Versuch verwendeten Spinnen am Tag nach Applikation) der genannten drei Gruppen zusammen mit der Gruppe NI A 11 Stunden 1. Tag verglichen wurde. Der Unterschied zwischen dem Extrakt aus dem Urin eines Gesunden und den Extrakten der drei Delirierenden konnte mit X2 = 6,63 bei P 0,01 = 6,6 stark gesichert werden, hingegen nicht der Unterschied zwischen einem einzelnen pathologischen und gesunden Extrakt.
In früheren Untersuchungen hat sich herausgestellt, daß beinahe alle überhaupt auf den Netzbau wirkenden Substanzen Netzgröße und Bauhäufigkeit vermindern (Witt [6]). Die charakteristische Wirkung der Substanzen, die es erlaubt, sie am Netzbau zu identifizieren, äußert sich zusätzlich in anderen Maßzahlen. Aus Tabelle 1 geht hervor, daß alle Urinextrakte, außer N2PA, eine Verminderung der Netzgröße am folgenden Tage bewirkt haben, teils statistisch stark, teils schwach gesichert. Durch Vergleich der Mittelwerte nach verschiedenen Extrakten untereinander läßt sich kein Unterschied in der Wirkungsweise einzelner Extrakte auf die Netzgröße sichern, hingegen der Unterschied der Wirkung aller Extrakte zusammen gegen 1; er zeigt jeweils für 6 bzw. 11 Stunden vor der Netzbauzeit appliziert eine stark gesicherte Verkleinerung mit tn = 6,888, P 0,0002; t6 = 7,156, P 0,0002. Daß eine Netzverkleinerung bewirkende Substanz in den Urinextrakten der Aufarbeitung 1 vorhanden sein muß, und daß diese nicht der Gruppe der basischen Amine angehört, zeigt sich auch beim Vergleich NI A (11 Stunden vor Netzbauzeit appliziert) mit N2PA (nach weiterer Reinigung, Variante 2), auf gleiche Weise appliziert; hier ließ sich mit t = 4,0667 bei P 0,0002 der Unterschied stark sichern. Dies kann auch als Hinweis darauf betrachtet werden, daß es der Urinextrakt Variante 1 und nicht ein methodischer Einfluß wie
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mit akut psychotischen Zustandsbildern auf pathogene Substanzen… 201
Abb. 1. Netze der gleichen Spinne an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Extrakt NI A wurde 6 Stunden vor dem Bau des zweiten Netzes gegeben. Beachte die Kleinheit, aber völlige Regelmäßigkeit des zweiten Netzes im Vergleich mit den ersten und dritten. (Der Maßstab ist bei allen drei Netzen gleich.)
Räuchern, Zuckerwasser etc. war, der die kleineren Netze bewirkt hat.
Alle übrigen Maßzahlen zeigen keine wesentlichen, immer wiederkehrenden Veränderungen, die auf die Anwesenheit halluzino-gener Substanzen in der mit dem Test erkennbaren Menge hin-weisen. Die zweimal schwach gesicherte Veränderung der Winkelregelmäßigkeit scheint uns eher mit den kleineren Netzen (kleinere Netze = geringere Radienzahl = weniger und größere Winkel = stärkere Variation der Nachbarwinkel) als mit einer spezifischen Orientierungsstörung beim Radienbau zusammenzuhängen. Auch ist wegen der nur schwachen Sicherung dieses Ergebnisses nicht vorauszusagen, ob diese leichten Veränderungen nicht bei einem größeren Versuchsmaterial völlig verschwinden würden. In vielen Fällen ist die Ähnlichkeit der durchschnittlichen Maßzahlen in der Tabelle an aufeinanderfolgenden Tagen geradezu auffallend.
Wie schon in einer früheren Arbeit betont (Witt [2]), sollte man die Netze immer noch als Ganzes im Hinblick auf mögliche Formveränderungen betrachten, die durch die Maßzahlen vielleicht nicht erfaßt worden sind. Bei einer solchen Betrachtung fällt hier das oben schon diskutierte Kleinerwerden mit gleichzeitigem «Ver-armen» der Netze auf; es sind weniger Radien, weniger sekundäre Rahmenfäden und einfacherer Rahmen gebaut (siehe Abb. 1 und 2).
Abb. 2. Drei Netze einer anderen Spinne an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Hier wurde 11 Stunden vor dem Bau des zweiten Netzes Extrakt B2A gegeben. Die Veränderungen sind von denen in Abb. 1 nicht zu unterscheiden. (Alle drei Netze im gleichen Maßstab abgebildet.)
Hingegen läßt sich keinerlei Unregelmäßigkeit oder eine sonst immer wiederkehrende Abweichung erkennen. Das ganze Netz erscheint als verkleinertes, vereinfachtes Abbild des ursprünglichen. Auch hier lassen sich also keine substanzspezifischen Veränderungen erkennen, im Gegensatz zu den bisher nach halluzinogenen Substanzen so deutlich aufzeigbaren Veränderungen.
Daß der Test während der ganzen Versuchszeit empfindlich war, zeigen andere Versuche, die während der gleichen Periode zwischendurch mit den gleichen Tieren durch Applikation einer den Netzbau beeinflussenden Substanz vorgenommen wurden: bei diesen Versuchen, über die separat berichtet wird (Witt [8]), ergeben sich bei etwa gleicher Versuchszahl einige mit P 0,0002 stark gesicherte Abweichungen von Netzproportionen.
Bei Versuchen im Jahre 1954 wurden Urine Halluzinierender getestet, die nur gefriertrocknet, aber sonst nicht weiter aufgearbeitet worden waren. Alle diese Urine bewirkten kleinere und seltenere Netze, und nur ein Urin zeigte zusätzlich veränderte Proportionen. Es stellte sich nachträglich heraus, daß der abweichende Urin von einer Patientin stammte, die am Vortage 0,75 mg Skopolamin bekommen hatte. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Medikamentapplikation und der Netzbauabweichung konnte nicht sichergestellt werden.
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Auswertung der Ergebnisse
In den Extrakten der von uns aufgearbeiteten Urine sind keine halluzinogenen Substanzen in einer im Spinnentest meßbaren Menge gefunden worden. Dagegen hat sich gezeigt, daß in 8 Extrakten eine die Netzgröße beeinflussende Substanz vorhanden war, die durch weitere Aufarbeitung (Variante 2) eliminiert werden konnte, ohne daß die basischen Amine wesentlich reduziert wurden. Dies ist gleichzeitig als Hinweis darauf zu betrachten, daß eine weitgehende Reinigung der Körperflüssigkeiten von Ballaststoffen für die biologische Testung wichtig ist. Der einzige Unterschied, der zwischen den Extrakten des Urines der 2 Gesunden und 3 Halluzinierenden gefunden wurde, lag in der Netzbauhäufigkeit bei Applikation 11 Stunden vor dem Netzbau. In Anbetracht der Tatsache, daß die drei pathologischen Urine das Vielfache an Trockensubstanz (400, 400, 800 mg/1) des Urines eines Gesunden (60 mg/1) enthielten und daß die Häufigkeit des Netzbaues, wenn nicht auf Null reduziert (Largactil), das wenigst charakteristische Merkmal für die Wirkung einer Substanz ist (sie wird nach Applikation beinahe jeder wirksamen Substanz an Spinnen reduziert (Witt [6]), lohnt es sich wohl nicht, diesem Unterschied größere Beachtung zu schenken.
Die Ergebnisse berechtigen uns aber auszusagen, welche Substanzen in welchen Mengen mit größter Wahrscheinlichkeit nicht im Urin der 3 Patienten waren. Legen wir einer solchen Berechnung zugrunde, daß wir (nach dem Mezkalin Modellversuch) mindestens 50% eines im ursprünglichen Urin vorhandenen basischen Amines im Extrakt haben und daß der Gesamtextrakt eines Urines jeweils in 0,6 ml Zuckerwasser (also in etwa 150 Spinnentrinkmengen von 4 mg) gelöst wurde, so können wir durch Multiplikation der niedersten bei Spinnen wirksamen Dosen eines Stoffes mit 300 die Menge erhalten, die mindestens im Morgenurin hätte sein müssen, damit die Spinnen im Netzbau deutlich reagiert hätten. In der Tabelle 3 haben wir diese Mengen mit den ungefähr niedersten am Menschen wirksamen Dosen verglichen.
Aus dem Vergleich in Tabelle 3, der schon auf Grund der nicht exakt bestimmbaren niedersten wirksamen Dosen bei Spinne und Mensch nur größenordnungsmäßig betrachtet werden darf, ergibt sich, daß in den 6 mit Kreuz versehenen Fällen wohl nicht so \ iel wirksame Substanz im Urin war, wie zur Erzielung einer V irkung
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im Körper des Patienten hätte sein müssen. Ziehen wir zusätzlich in Betracht, daß wir es bei unseren Patienten mit hochgradigen Störungen zu tun hatten, also, unter Zugrundelegung einer toxischen Genese dieser Störungen, mit wesentlich höheren als den minimal wirksamen Dosen, so scheint die obige Berechnung einen gewissen Aussagewert zu bekommen.
Andererseits haben wir nur drei Patienten untersucht, so daß daraus keine Rückschlüsse auf alle halluzinierenden Kranken gezogen werden können, besonders wenn wir bedenken, daß es sich bei den zu untersuchenden Kranken vermutlich um eine ganze Gruppe verschiedener Krankheiten handelt. Ferner wissen wir nicht, ob die vermuteten Substanzen nicht früher oder später als zu der von uns gewählten Zeit (nächsten Morgen) in meßbaren Mengen ausgeschieden werden. Es handelt sich somit um mehr beispielhafte Einzelversuche, deren Wert in der Eröffnung eines methodischen Weges hegt, während eine empirische Ausschöpfung u.a. ein wesentlich größeres Versuchsmaterial erfordern würde. Dies läßt sich mit unseren Mitteln nicht durchführen.
Halten wir trotz dieser vorläufigen Ergebnisse die Hypothese von der toxischen Genese der Halluzinationen aufrecht, so ist der von uns eingeschlagene Weg zur Auffindung der verantwortlichen Substanzen sicher nicht der richtige. Es läßt sich nicht sagen, wo wir die falsche Annahme gemacht haben. Es ist sowohl möglich, daß es sich um eine Substanz handelt, die mit dem Spinnentest nicht erfaßbar ist, weil dieser dafür nicht empfindlich ist; es kann aber auch sein, daß der Stoff im Urin gar nicht oder in biologisch bereits
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unwirksam gewordenen Form oder in sehr geringen Mengen erscheint. Schließlich läßt sich auch die Möglichkeit nicht ausschließen, daß unser chemisches Vorgehen falsch war, und daß wir einen solchen Stoff bei der Extraktion verloren haben, weil die Annahme über seine basische Aminnatur falsch war. Wenn unsere Versuche auch nicht zur Auffindung einer Substanz geführt haben, so glauben wir doch, daß viele ähnliche Versuche gemacht werden müssen, bis ausgesagt werden kann, ob überhaupt eine und welche toxische Substanz eine Rolle oder sicher keine Rolle bei der Entstehung der Delirien spielt. Alle solchen Versuche sollten aber unter Zugrundelegung der genannten Hypothese gemacht werden, denn der Biologe kann kaum anders als mit Gerard [1] annehmen, «that there can be no twisted thought without a twisted molecule».
Zusammenfassung
Es wird versucht, im Morgenurin von drei akut psychotischen Kranken halluzinogene Substanzen biologisch nachzuweisen. Die mit Hilfe von Kationenaustauscherharz aus dem Urin extrahierten Basen werden an Spinnen verfüttert und durch Ausmessung der danach gebauten Netze gezeigt, daß LSD, Largactil, Adrenochrom, Skopolamin, Pervitin, Strychnin, Nembutal, Mezkalin und Coffein oder Substanzen, die an Spinnen gleiche Wirkung zeigen, in bestimmten Mengen nicht nachweisbar sind. In Modellversuchen werden kleine Mezkalinmengen, die dem Urin vor Aufarbeitung zugesetzt wurden, wiedergefunden. Daraus wird geschlossen, daß die drei Kranken zu der untersuchten Zeit keine größeren Mengen der genannten Substanz im Urin ausschieden. Diese Einzelversuche eröffnen zwar einen Weg zur Erforschung der Genese der Delirien, die empirischen Möglichkeiten sind aber durch sie nicht ausgeschöpft.
Résumé
L’auteur tente de détecter biologiquement des substances hallucinogènes dans les urines du matin de trois malades atteints de psychose aiguë. Les bases extraites des urines au moyen de la résine d’échange à cations sont données par voie orale à des araignées, et il est démontré, en mesurant et en analysant les toiles qui en résultent, qu’on ne peut déceler aucune quantité définie d’acide d-lysergique diethylamide, de largactil, d’adénochrome, de scopolamine, de pervitine, de strychnine, de nembutal, de mescaline ou de
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cafféïne dans les urines. Lors d’expériences modèles cependant de petits quantités de mescaline ajoutées aus urines préalablement à l’extraction ont été retrouvées. Il résulte de cela qu’au moment de l’examen les trois malades ne sécrétaient aucune quantité notable des substances mentionnées dans leurs urines. Si ces expériences particulières ouvrent une voie nouvelle dans l’exploration de la genèse des délires, elles n’épuisent pas, cependant, les possibilités empiriques.
Summary
An attempt is made to trace biologically hallucinogenic substances in the morning urines of 3 delirious patients. The bases extracted from the urines with the help of cation exchange resin are given orally to spiders, and it is demonstrated by measuring and analysing the resulting webs that any definite quantities of d-ly-sergic acid diethylamide, largactil, adrenochrome, scopolamine, pervitin, strychnine, nembutal, mescaline or caffeine or substances, which show similar activity in spiders, cannot be traced. In a model experiment however small quantities of mescaline added to the urine prior to the extraction are retraced to at least 50%. It is therefore believed that the 3 patients at the time of investigation did not excrete any appreciable amounts of the substances mentioned. While the means by which these experiments are conducted point a way towards investigating the genesis of deliria the empirical possibilities are not exhausted.
LITERATUR
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Adresse der Autoren: Dr. P.N. Witt und Dr. R. Weber Pharmakologisches Institut und Th. Kocher-Institut der Universität Bern (Schweiz)