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NZZ am Sonntag • 12. September 2004
Was Forscher alles wissen wollen
Sex auf einer Waage, Spinnen unter Drogeneinfluss, Musik fur Regenwürmer und was Autofahrer wütend macht: Kostproben aus dem «Buch der verrückten Experimente». Von Reto 17. Schneider
Im Haus des Arztes Sanctorius hing alles an einer Waage: das Bett, der lisch und -wie in diesem Kupferstich – der Stuhl.. (Blocker Collections).
1600
Ein gewogenes Leben
Hätte es das «Guinness-Buch der Rekorde» schon gegeben,- Sanctorius-‘ Sanctorius wäre bestimmt darin aufgenommen worden: Kein Mensch dürfte längere Zeit auf einer Waage verbracht haben als der berühmte Arzt. aus Padua. Sein Arbeitstisch, sein Stuhl, sein Bett: ‘Alles hing an Seilen/ die zü in der Decke versteckten Gegengewichten führten. Damit bestimmte . Sanctorius dreissig Jahre läng eifrig die kleinsten Veränderungen. seines Ge-’ wichts. Zudem wog er das Essen, das er. zu sich nahm, und die Exkremente, die er ausschied. Die daraus gezogenen. Schlüsse über die Funktion: ‘dès . menschlichen Körpers, veröffentlichte er als Merksätze.in seinem Werk «De statica medicina», das heute als Klassiker gilt. Der bekannteste davon bezog sich auf dié erstaunliche Tatsache, dass der Mensch nur einen kleinen Teil des Gewichts, dessen, was er zu sich nimmt, als Urin und Stuhl wieder ausscheidet:- «Wenn man an einem Tag acht Pfund Fleisch und Getränke einnimmt, ist die Menge, die in dieser Zeit als nicht wahrnehmbare Ausdünstung weggeht, fünf Pfund.» Dass diese unsichtbare Ausdünstung vor allem Schweiss war, wusste Sanctorius nicht, doch er war der Erste; der ihre Menge bestimmte, und wurde damit zum Begründerder quantitativ-experimentellen Medizin. Bis dahin’ hatten Ärzte nur. beschreibend gearbeitet Leider, hat Sanctorius! seine Experimente nirgends genau geschildert.’ So bleibt es der Phantasie des Lesers, überlassen, wie der’.’Versuch für den Merksatz Nummer zwei im Kapitel «Über den Geschlechtsverkehr» äUs-gesehen haben mag: «Bei masslosem .Geschlechtsverkehr wird etwa ein Viertel der üblichen Menge der Ausdünstungen blockiert;» ’
BH|i
Die Uhr in der Mimose
Der. französische. Astronom Jean Jacques d’Orföus de Mairan hat nie erfahren, dass er ein neues Wissenschaftsgebiet begründete, als er eine seiner Topfpflanzen in einen Schrank stellte.
Er selbst wollte das Resultat seines Mimosen-Experiments gar nicht publizieren. Zu unbedeutend schien esihm.
Mimosen schliessen ihre Blätter in der Nacht und öffnen sie am Tag. De Mairan fragte sich, Was wohl passieren würde, wenn die Mimose nicht mehr wüsste, ob gerade Tag oder Nacht ist. Am Ende des. Sommers 1729 stellte er eine Pflanze in einen stockfinsteren Kasten und fand heraus, dass sich’die Blätter auch ohne Sonnenlicht zur richtigèn Zeit öffneten Und schlossen. «Die Mimose spürt also die Sonne, ohne sie zu sehen», hiess’ es in dem Brief, den ein Freund de.Mairans und Mitglied der Académie an das höchste wissènschaftliche Gremium Frankreichs, an die Académie.Royalé des Sciëncés, schrieb. .
Dieser Schluss war nicht der richtige. Viel später stellte man fest, dass die Mimose nicht die Sonne spürt, sondern einen Taktgeber in sich trägt. Trotzdem gilt, de Mairan heute als der Begründer der Chronobiologie, der Wissenschaft von der inneren Uhr von Lebewesen. Zweihundert Jahre später führte ein Wissenschafter de Mairans Experiment mit Menschen durch: Er zog sich mit seinem Assistenten einen Monat in eine Höhle zurück.
Charles Darwin (1809-1882).
1837
Darwin amt Fagott
Es gibt Eâpet^ëhte, die man sich einfach aus; der /Sieht der untersuchten Tiere vorsteÜçn sollte. Da windet sich also ein Wurm in einem Topf mit Erde, und was sieht, er, wenn er über den Rand blickt? Einen der bedeutendsten NaturwissênsChaftër aller Zeiten, Charles Darwin, der sein Fagott ganz nah an den Topf hält und mit gëblâhtén Backen den tiefstmöglichen Ton spielt. Wer nün glaubt, der Wurm sei überrascht, könnte, sich täuschen. Der Gelehrte hatte nämlich auch schon auf der Flöte und auf dem Klavier für ihn gespielt. \
Darwin’begründete nicht nur .die Evölutionslehre, er erforschte auch über vierzig Jahre läng intensiv das Leben der Regenwürmen Dabei wollte er unter anderem die Frage klären, ob die Würmer hören können. Als sie auf keines der Instrumente reagierten und sich auch nichts .aninerken Hessen, wenn Darwin sie anschrie, schloss er in seinem 1881 erschienenen Buch «The Formation of Vegetable Mould, Through the Action of Worms» (Die Bildung der Ackererde durch die Tätigkeit der Würmer, mit Beobachtungen über deren Lebensweise): «Würmer haben keinen Gehörsinn!»
1948
Drogennetze
Spinnen pflegen einen für Wissenschafter. anstrengenden Brauch: Sie spinnen ihre Netze um vier Uhr morgens; .Dieses Problem, machte .1948 auch dem Zoologen Hans M. Peters von der Universität Tübingen zu schaffen. Er wollte . Filmaufnahmen des
Unter Marihuana entstanden besonders schöne Spinnennetze. (Nasa)
Unter Koffein spannen Spinnen chaotische Netze. (Nasa)
nen vielleicht mit Aufputschmitteln : dazu bringen Hessen, ihre Netze zu einer frèundHcheren Stunde zu weben. Witt versuchte es als Erstes mit Strychnin, Morphium und Dextroampheta-ij.min (Spee]d). …Die ..Fütterung waf einfach: Die Spinnen irassen jçdes Gift, das mit etwas Zuckerwasser vermischt war. Doch der Erfolg bHeb aus. Sie arbeiteten immèr noch in aUer Herrgottsfrühe, Und Peters verlor das Interesse an den Versuchen.
Witt hingegen fand das Resultat hochinteressant: Netze, wie sie die Spinnen unter Drogeneinfluss bauten, hatte er noch nie gesehen. Luftige, dichte, grotesk unregelmässige, aber auch extrem exakte. Liesse sich das . Spinnennetz als Messgerät für die Wirkung von Drogen und Medikamenten verwenden? Es gab damals kaum Verfahren, um den Effekt dieser Stoffe auf einen Organismus zu quantifizieren.
Witt fütterte die Spinnen mit aUem, was der Arzneimittelschrank hergab: Meskalin, LSD, Koffein, Psüocybin, Luminal, VäHum. Danach Hess er sie in einem 35 mal 35 Zentimeter grossen. Rahmen ein Netz spinnen, das er vor einem schwarzen Hintergrund fotografierte. Weil die Netze mit blossem Auge nicht klar kategorisierbar waren, entwickelte Witt eine, .statistische Methode, mit der sich selbst kleine systematise be Unterschiede . feststellen Hessen. Auf dem Bild des Netzes ber stimmte er Winkel, Fadenabstände und Flächen und erstellte TabeUen mit der Häufigkeit des Netzbäus, der Grösse der Fangflächen und dem Verhältnis der Netzachsen zueinander. –
Das Verfahren war aufwendig: Das •Netz einès ausgewachsenen Weibchens Ararieus diadematus konnte leicht aus 35 radialen. Fäden und 40 Spiralrunden bestehen. Es hatte 1400 Kreuzungen. Für einen vernünftigen Vergleich mussten 20 Netze vor der Verabreichung der Droge analysiert werden und 20 danach. Eine solche DatënfüUe war Zu dieser Zeit -, am Anfang noch ohne Computerhilfe – kaum zu bewältigen. Um sich die. Arbeit zu. erleichtern, beschränkte Witt die Messungen nur auf jene. SteUen, die bei einer bestimmten Droge interessant’ erschienen. Das erschwerte aber den Vergleich zwischen verschiedenen verabreichten Stoffen.
Nach «weiteren bizarren Versuchen zerschlug sich die Hoffnung, das Spinnennetz als universeUe Anzeige für chemische Stoffe einsetzen zu können.
ziertèn ausgerechnet Wissenschafter, der Nasa entsprechende Resultate; Die Computertechnik hatte Fortschritte.-gemacht, die-Netze Hessen sich jetzt mit Statistikprogrammen analysieren, die für die Kristallographie entwickelt worden wären. Für die-Drogenprävention eigneten sich die;. Fabrikate der Spönnen ‘ definitiv nicht:.Das../■•chaotischste- Netz entstand unter Koffein, das schönste unter Marihuana,.das.re-gelmässigste – das hatte, schon Witt entdeckt – unter LSD.. *
1971′ ‘
Galileo auf dem Mond
Obwohl. Galileo Galilei schon im 17. Jahrhundert mit einem elegänten’ Gedankenexperiment belegte, dass die FaUgeschwindigkeit. eines Gegenstands nicht von dessen Masse abhängt, fallt es uns immer wieder schwer, das zu glauben. Im AUtag machen wir ständig gegenteiHge Erfahrungen: Eine Flasche fallt schneUer als ein Laubblatt, ein Hagelkprn schneUer äls eine Schneeflocke, ein Hammer schneUer als eine Feder. Natürlich sagte uns der Physiklehrer, dass die unterschiedHchen Fallgeschwindigkeiten mit dem Luftwiderstand zu tun. haben. Aber die Macht dessen, was wir mit eigenen Augen sehen, bleibt stark.
Deshalb führte der Astronaut David Scott am 2. August 1971 auf dem Mond vor laufender Kamera ein Experiment vor. Er Hess auf dem atmosphärelosen Mond gleichzeitig eine Feder und einen vierzigmal schwereren Hammer faUen.’ Beide landeten gleichzeitig auf der Mondoberfläche. Obwohl im Voraus bekannt, sei das Resultat doch .beruhigend gewesen, hiess es später im Nasa-Report über die ApoUo-15-Mis-sion. Schliesslich hing die Heimreise entscheidend von der Gültigkeit der mit dem Experiment verbundenen Theorie ab.
Experiment «Sexuelle Erregung». (Journal of Applied Social Psychology)
1974
Erregt an der Ampel
Autofahrer wëfden wütend, wénn der-Wägen vor ihnen bei Grün, ohne err sichtlichen Grund stehen bleibt. Das ist eine Binsenweisheit und seit 1966 auch wissenschaftUch bestätigt. Der Psychologe Robert A. Baron fragte sich, wie. sich dieser Ärger dämpfen Hesse. Er hatte in \ .verschiedenen Laborstudien
gezeigt, dass die Aggression ahnahm wenn eine Versuchsperson einem Rei: ausgesetzt war, der andere Emotionëi weckte .wie Mitgefühl, Humor oder se xueUe Erregung. Jetzt wollte Baroi diese Hypothese testen.
Und so kam es, dass im Sommer 197* 120 Autofahrer in West Lafayette, In diana, in den Genuss von Barons klei nem Theater kamen: An einer Ampe blockierte ein Komplize Barons mit ei nem Auto bei Grün den nachfolgendei Fahrer; dann erschien eine voUbusig« Studentin in Minirock und’engem Top die zwischen den beiden Autos di<
. Strasse überquerte. Das war die Espe rimentalbedingung «sexueUe Erre gung». Fahrern, die weniger Glück hat ten, widerfuhr èihe der vier andere] Experimentalbedingungen; keine Stu dentin (KontroUgruppe), normal ange zogene Studentin (Ablenkung), Stu dëntin an Krücken (Mitgefühl), Stu dentin mit Clownmaske (Humor).
Der Wägen des Komplizen blockier te die Fahrbahn 15 Sekunden lang. Di< Frage war, ob die verschiedenen Bedin gungen etwas an der Reaktion der Fah rer änderten.. Das nicht unbeding überraschende – Resultat: Wenn Krü cken, Clownmaske oder Minirock L Sicht waren, hupten die Fahrer späte als bei der normal angezogenen Stu dentin. Der Minirock eignete siel . dabei aUerdings deutlich besser al Krücken oder Clownmaske.
1999
Der unerklärliche Hunger
Der Hunger gibt der Wissenschaft im mer wiedër Rätsel auf. Zum Beispie mit dem Experiment, das Barbar jJ. RoUs von der Pennsylvania Stat University- machte. Rolls servierte h ihrem Labor drei Gruppen von Frauej ähnliche Vorspeisen. Die eine Gruppbekam einen. Auflauf aus Hühncher Reis und Gemüse vorgesetzt, die an dere den gleichen Auflauf als Suppe man fügte einfach 356 Gramm Wasse hinzu. Obwohl sich der Energiegehal des Gerichts dadurch nicht änderte Wasser hat keine Kalorien -.wirkte di Suppe weit sättigender: Wer sie al Vorspeise bekommen hatte, nahm vo der Hauptspeise gut ein Viertel wen ger zu sich.
Dieses Resultat Hess sich mit der grösseren Volumen der Suppe noc halbwegs erklären, doch richtig bizai wurde es bei der dritten Gruppe. Si bekam. Zum Auflauf genau jene. 35 Grämm Wässer zu trinken, die bei de •zweiten Gruppe in der Suppe wäret Die beiden Gruppen nahmen also ir nerhalb der genau gleichen Zeit – zwo! Minuten waren vorgesehen – die gle: . che Menge und die gleiche Art Nal rung-zu sich, und trotzdem waren di Suppenesser danach weit wenige hungrig. Wieder nahmen sie voi Hauptgang ein Viertel weniger zu siel
Da ist selbst RoUs, die weltweit al eine der führenden Appetit-Forsche rinnen gilt, um eine Erklärung verb gen. Sie vermutet, dass bereits de AnbHck der Suppe sättigender wirkt< weil sie im TeHer ein grösseres Voll men einnahm als der Auflauf. RoUs’ Ej périment zeigt, wie wenig die Wissei schaft über die Regulation des Himgei weiss – und dass die Suppe der Fein des Vielfrassesist.
Reto U. Schneider ist Redaktor beim NZZ-Folio. Sein «Buch der verrückten Experimente» erscheint dieser Tage bei C. Bertelsmann.